Wir gehen vorbei
an der renovierten Raika-Bank, laufen über die Bundesstraße und
nehmen die Abkürzung durch den Friedhof. Auch der ist vor wenigen
Jahren erneuert worden, seit das Dorf vom Bauchspeck der
Kulturhauptstadt überwachsen wird. Ganz, als ob der vergrößerte
Weihgrund den Greisen das Ableben schmackhaft machen soll, weil die
Jung- und Akademikerfamilien Platz brauchen. Vor zehn, fünfzehn
Jahren ist Schönering in die Kategorie des Vorstädtischen gekippt.
Aber ich hatte als Kind noch rechtzeitig bei den benachbarten Bauern
das Schlachten ihrer letzten Schweine und Stiere beobachtet, bevor
sie ins Ausgedinge gingen oder auf Bauernparty-Eventmanager
umstellten. Damals hatte ich nächtelang schlecht geträumt. Aber
beim Studieren konnte ich später viele Bürgerskinder und
BWL-Studentinnen mit meinen einschlägigen Landerlebnissen
beeindrucken.
Franz ist mit seiner Familie vor
wenigen Jahren ins Haus neben meinen Eltern gezogen. Er arbeitet in
der Stadt und kommt vom Land; das aber richtig – nämlich aus dem
Sauwald. Den Zentralraum empfindet er einerseits als ›identitätsarm‹;
er spottet bei jeder Gelegenheit über die nahe PlusCity und den
unmotivierten Dialekt der Menschen hier. Andererseits ist er so
integrationswillig, dass er dauernd im Pfarrblatt abgebildet ist.
Fledermauswandern mit den Grünen, Sonnwendfeuer mit den Schwarzen,
Punschtrinken für die Feuerwehr, Mostkosten mit den Roten,
Knödelsonntag in der Kirche, Filmschauen mit dem Pfarrer. Nur für
den Kornblumenball ist er sich zu schade, obwohl er gerade dort noch
das alte Schönering mit seiner hohen Nazi-Dichte erleben könnte.
Symbolbild "Franz mit kleiner Blasmusik"
Heute traben wir an der Volksschule
vorbei, die an drei Seiten vom Friedhof umzingelt ist. Ich erzähle
Franz, wie das Schulgebäude ausgebaut worden ist, als ich in die
Vierte ging. Zur Wiedereinweihung ist dann sogar der Landeshauptmann
gekommen. Aus irgendeinem Grund hat man damals ausgerechnet mich dazu
ausersehen, dem Ratzenböck Blumen zu überreichen. Meine Eltern
zerrten mich also aus dem kleinen Waldstreifen, in dem ich während
des Sommers als Indianerhäuptling ein strenges Regiment über die
anderen Nachbarkinder führte. Sie wuschen mir den Dreck aus dem
Gesicht, bürsteten mir die Ritter aus dem Haar und steckten mich in
ein zu enges Dirndlkleid. Ich ließ alles erschrocken und
schreckensstarr über mich ergehen. Als mir die Direktorin dann einen
Blumenstrauß in die Hand drückte und mich in Richtung Landesjosef
plus Blasmusik schob, wallte schließlich die Angst in mir hoch. Ich
schickte mich an, auf meinen kurzen Beinen das Weite zu suchen. Mein
Vater fing mich nach drei Metern ab, drehte mich in die richtige
Richtung und sorgte so dafür, dass der Ratzenböck doch noch zu
seinen Blumen kam. Den Fluchtimpuls habe ich heute gut im Griff, aber
ein Dirndl habe ich seitdem nur noch unter Protest angezogen.
Franz gluckst vor Lachen, aber auch vor
Bierdurst. Die Kantine des neuen, in pilzartiger Geschwindigkeit aus
dem Boden geschossenen Reha-Zentrums lassen wir rechts liegen. So wie
das ›Café Regina‹ des Fleischhackers, da wir dort bei unserer
letzten Exkursion in den ›Ortskern‹ unter Substanzeinfluss von
der Budel gekippt sind und von den diensthabenden Zivildienern
erstversorgt werden mussten.
Nur einen Steinwurf – und ich kann
nicht weit werfen – entfernt schimmert an einem großen Vierkanthof
fahl das Schild ›Gasthof Übleis‹. Vor dem Eingang zögern wir,
ich nehme mir zuerst ein Herz und stoße mit einem etwas zu forsch
geratenen »Sgood!« die Tür zum Schankraum auf. Haben wir von außen
gerade noch lautes Reden sowie Fäuste und Karten auf den Tisch
knallen gehört, so herrscht nun große Stille in der kleinen
Gaststube. 13 Augenpaare starren, eines davon hinter dicken Brillen,
die ich abnehme, da der Dunst mir die Sicht verschlägt. Ich sehe
ohne Brille fast genauso schlecht wie ohne Augen, also vergeht eine
peinsame Weile, bis ich mich wieder orientieren und bewegen kann.
Franz ist derweil reglos hinter mir stehen geblieben.
Langsam nehmen die Gäste ihre
Gespräche und Schnaps-Partien wieder auf und sehen nur noch
verstohlen zu uns her, während wir uns hinsetzen. Über dem
Nebentisch hängt ein riesiges Luftdruckgewehr, darunter sitzen drei
Kartenspieler in Ballonseide, auf der jeweils ›Asphaltstockschützen
Schönering‹ steht. Im Übrigen kenne ich keinen anderen kleinen
Ort, in dem eine derart riesige Asphaltstockhalle steht. Ein
imposantes Mahnmal antiquierter Leibesertüchtigung.
Der Kellner kommt. Er trägt ein
T-Shirt, auf das ihm ein Kind einen Igel und in krakeliger
Volksschulschülerschrift ›Sei nicht immer so stachelig‹ gemalt
hat. Auf seinen Armen sind ebenso ungelenke Tätowierungen zu sehen,
aber keine Igel, sondern blutende Messer und Herzen. »Wos ham’S n
firan Wunsch?« Unter dem Tisch trete ich sacht gegen Franzens
Schienbein, um ihn an die Wette zu erinnern. Er räuspert sich.
»Wöchane Proseccosorten hobt’s denn?«
Sein Gesicht glüht vor Scham wie ein
bulgarischer Reaktor, auch der Kellner wird rot. Wieder wird es
still. »Zwoa Hoiwe woin ma«, erlöse ich die beiden und schließlich
wird am Nebentisch wieder gekartelt.
So sitzen wir und hören zu, weil wir
uns sowieso nicht auf ein eigenes Gespräch konzentrieren können –
denn an den anderen Tischen schwebt die aufregende Möglichkeit einer
Handgreiflichkeit in der Luft. Ein Landesbeamter verteidigt gegen
vier Voestler die Anzahl seiner Arbeitsstunden und provoziert auch
durch geringfügige Liberalitäten in der Ausländerpolitik. Wir sind
gebannt und sprechen nur beim Bestellen. So werden aus den zwei
Halben drei, vier, fünf, sechs. »Wiaso duzt mi der blede Kööna
ned, glaubt der, i bin wos Bessas?«, raunzt Franz Stunden später,
sobald wir aus dem Wirthaus draußen sind.
Und dann torkeln wir wieder zurück ins
Einfamilienhausghetto, vorbei an Gärten voller
SchwimmbeckenSchaukelnTrampolineCarportsThujen. Wir übergeben uns
zum Abschied auf dem Vorplatz vor dem Volvo-SUV meines Vaters. Denn
bevor man über andere spottet, soll man zuerst vor seine eigene
Haustür kotzen.
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