Sonntag, August 28, 2022

Im wilden Westen Mitteleuropas. Bei den Awaren

Junge Awarin in Alltagstracht

 

Winifred I

Ein Lǜ Jiǎo ist ein Mensch, der in fremde Wohnungen geht und Fotos vom Klo macht; der den Hund seines Gastgebers mit Füßen tritt; der die Pistole beim Schießen quer hält wie in billigen Actionfilmen; der seinen Namen in die Mauer eines Tempels ritzt und Knochen aus einem Beinhaus stiehlt. Ein Lǜ Jiǎo isst den Schweinsbraten mit Stäbchen. Er ist, was den Westen betrifft, noch grün hinter den Ohren, daher sein Name: „grünes Horn“. Ein Lǜ Jiǎo verwechselt die Langnasen miteinander, weil er sich nicht die Mühe macht, sie unterscheiden zu lernen. Er macht einen Aufstand, wenn keine Kanne Tee in seinem Zimmer steht, er verkauft im europäischen März seinen Nerzmantel und wundert sich, wenn ihn die Erkältung niederstreckt. Ein Lǜ Jiǎo nimmt den Klappfeitel so in die Hand, dass er sich selbst die Finger abschneidet, wenn er damit kämpft. Ein Lǜ Jiǎo steigt in die Berge, weiß die Wolken nicht zu deuten und wundert sich, wenn er erfroren in der Gletscherspalte liegt, dass ihn die Einheimischen nicht herausgezogen haben. Ein Lǜ Jiǎo ist eben ein Lǜ Jiǎo – und ein solches war damals auch ich.

Enge, karge Verhältnisse in der Heimat, der Wunsch, meine Kenntnisse zu erweitern und ein angeborener Tatendrang hatten mich über den Indischen Ozean getrieben. In Doha führte mich das Glück in eine Familie von Landsleuten, wo ich eine Tätigkeit als Hauslehrer fand. Doch eines Abends nahm mich ein Freund der Familie, ein alter Waffenschmied, der meine physische Stärke und meinen Unternehmergeist auf den ersten Blick erkannt und auch sonst Gefallen an mir gefunden haben mochte, zur Seite. „Du bist ein Lǜ Jiǎo!“ Er schnitt mir mit einer Bewegung den Protest ab, „ein großes Lǜ Jiǎo! Und doch will's mir scheinen, dass du für Größeres geschaffen bist!“ Ich wollte die Familie nicht so schnell wieder verlassen, aber der Waffenschmied blieb beharrlich und machte mich mit Geschäftsleuten bekannt, denen er vertraute. Nach einigen Tagen der Verhandlung, in denen er immer wieder mein Geschick beim Rechnen und Schattenboxen gepriesen hatte, war man sich über meinen Kopf hinweg handelseins. Ich sollte Surveyor werden. Die Bahnstrecke, die schon von Changsha über Bischkek nach Teheran führte, die neue Seidenstraße, sollte künftig bis an den Atlantik reichen. Meine Abteilung war für die Vermessung der Strecke durch die Alpen zuständig.

Der Büchsenmacher lud mich zum Abschied in eine der Hafenspelunken, und als wir uns am Ende schnapstrunken voreinander verbeugten, stand ihm das Wasser in den Augen.


Anfang September waren wir bereits drei Monate in Dienst, hatten aber unsere Aufgabe noch nicht gelöst, während die Strecken durch den Balkan sowie durch die Niederungen bis Rotterdam schon vermessen und die anderen Trupps längst wieder zuhause waren. Für unsere Verzögerung gab es gute Gründe. Wir hatten ein sehr schwieriges Terrain zu bearbeiten. Die Bahn sollte dem Lauf der Donau folgen, dann aber in das Voralpenland hin zum Mittelmeer abgehen, durch Täler und über Pässe; wir mussten die geeignete Richtung erst finden und legten uns nach anstrengenden Geländefahrten und Wanderungen spät darauf fest, dem Lauf eines Gebirgsflusses, der in Linz in den Strom mündete, südwärts zu folgen. Erschwert wurde das alles noch dadurch, dass wir uns in einer gefährlichen Gegend befanden, denn es trieben sich Awaren, Slawen und Bajuwaren umher, die von einer Bahn durch das Gebiet nichts wissen wollten. Wir mussten stets auf der Hut sein, wodurch unsere Tätigkeit erst recht verlangsamt wurde. Zudem lagen meine Mitarbeiter halbe Tage völlig betrunken auf der Erde. Es gab immer wieder Streit, insbesondere der trunksüchtige Vorarbeiter Shǔ neidete mir alles. Keiner nahm es genau mit der gewissenhaften Erfüllung seiner Pflicht, sodass die schwierigen Aufgaben allesamt an mir hängen blieben. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, denn ich bin stets der Ansicht gewesen, dass man umso stärker wird, je mehr man leisten muss.

Nur mit Gǔ, einem unserer Securities, hatte ich es gut getroffen, er wurde mir in dieser Anfangszeit zum Lehrer in allen Fragen, was den Westen betraf. So unterwies der kauzige Kerl mich in der kargen freien Zeit im Gebrauch des Klappmessers und im Fingerhakeln. Und bald erlangte ich in der Kletterkunst und Seiltechnik größte Fertigkeit und kam mit Leichtigkeit jede Wand hoch. „Schön so, junger Freund! So ist's recht!“, rief lachend, „aber bildet euch ja nichts ein, ihr seid immer noch ein Lǜ Jiǎo!“

Langsam kamen wir voran. Seit Tagen hatten wir schon einen mächtigen Berg ausnehmen können, und als wir schließlich auf dem ersten vorgelagerten Hügel standen, tat sich vor uns ein herrliches Panorama auf; ein tiefgrüner See füllte die Ebene zwischen den karstigen Türmen. Des Abends schlugen wir unser Lager an einer kleinen Halbinsel am Westufer auf. Gǔ lud mich an sein Feuer. „Lasst morgen die Arbeit einmal ruhen. Wollen auf die Jagd gehen, die Wälder sind so dicht, es muss ganze Herden an Rotwild geben, und wenn Ihr halbwegs rüstig zu Fuß seid, zeigt sich uns vielleicht die eine oder andere Gämse, wenn ich nicht irre.“

Und wirklich war uns das Jagdglück am nächsten Tag hold, allerdings nicht so, wie sich der erfahrene Westmann das vorgestellt hatte. Wir waren zwei Stunden in den Bannwald hinaufgestiegen und erreichten am Vormittag die Baumgrenze. Auf dem Altschneefeld unterhalb eines Kars tummelten sich die Gämsen, von denen ich bis dato nur gelesen hatte. Gǔ bedeutete mir, still sitzen zu bleiben, er selbst schlich sich zu den Bergziegen hinüber. Doch noch ehe er seine Büchse anlegen konnte, gab der Fels unter ihm nach und er fiel wenig geschickt einen Abhang hinab. Den Jäger wittern und auf ihn losstürzen waren dem Leitbock eins. Sogleich legte ich meinen schweren Vorderlader an – ein Schuss krachte und Gǔ war aus seiner misslichen Lage errettet. „Tut mir einen Gefallen, erwähnt mein Missgeschick nicht!“, bat er mich, nachdem wir die Keulen der Gämse ausgelöst und in die Rucksäcke geladen hatten. Ich sicherte ihm das lachend zu und wir machten uns an den Abstieg.

Wir hatten uns auf zwei Li dem Lager angenähert, als grässliches Geschrei die Gebirgsruhe durchschnitt. Ich lief in langen Schritten und hatte bald den Ort des Geschehens erreicht. Den Augen bot sich Entsetzliches – rings auf den Bäumen saßen die Arbeiter und brüllten um Hilfe. Direkt vor mir stand der Braunbär und wühlte im Unterleib des Kochs Long, der es nur auf den ersten Ast einer Buche geschafft hatte. Ich hob – ohne nachzudenken – einen Stein vom Boden. Der Petz hielt, am Kopfe getroffen, sogleich in seinem Wüten inne und drehte sich zu mir um, der ich ihn mit einem Schuss ins rechte Auge empfing. Der Bär sackte auf die Vorderläufe, dann tappte er stracks auf mich zu, wo er sich wieder erhob. Ich zog mein Klappmesser, sprang zwischen die Tatzen und stach zu. Viermal in das Herz hinein. Der Bär gab nach und sank in seinen Tod. Ich ging zum Stamm, an den sich Long klammerte. „Lasst los, Mann, ich helfe euch herunter!“ Der Anblick war wüst, die Eingeweide hingen ihm aus dem Bauch. Er war tot. Die Arbeiter wollten erst von den Bäumen steigen, nachdem ich ihnen die Leblosigkeit des Tieres bewiesen hatte.

Gǔ hatte alles gesehen, er beugte sich über den Leichnam. „Ó! Ein Braunbär, hier? Dachte, die wären samt und sonders ausgerottet! Muss von Karantanien her kommen.“ Die Arbeiter, die gerade noch um ihr Leben gefürchtet hatten, wollten sich nun gierig daran machen, dem Bären die Krallen und den Penis abzuschneiden, um sie als Heilmittel weiterzuverkaufen. „Der Bär ist mein!“ rief ich, aber sie wichen nur kurz zurück. „Noch ein Schritt weiter und ich schlage jeden ohnmächtig, der --“

In diesem Augenblick tönte eine laute Stimme. „Meine Herren, seid ihr toll? Was für einen guten Grund könnte es geben, dass Landsleute einander den Hals brechen?“ Alle drehten sich um. Da trat ein buckliges Männlein hinter einem Baum hervor. Er war so hellhäutig, dass man ihn für einen Europäer halten musste. Die Arbeiter verzogen höhnisch die Gesichter. Der Kleine beachtete sie nicht, sondern wandte sich an mich. „Habt Ihr Kraft in den Knochen, junger Herr!“ Er kniete sich zum Bären. „Ihr seid uns zuvorgekommen. Da liegt er, der Braune. Hat angefangen, unser Vieh zu reißen. Drei Tage sind wir seiner Fährte gefolgt.“ Er richtete sich wieder auf. „Ihr seid Landvermesser?“ Ich nickte und erzählte ihm von der Bahn. Ein Schatten fiel über sein Gesicht. „Der Boden, auf dem Ihr euch befindet, gehört dem Stamm der Awaren vom Salzberg.“ „Was geht euch das an?“, brüllte da Shǔ. „Ich gehöre zu den Awaren“, antwortete der Bucklige ruhig. „Ah!“ krähte Shǔ in spöttischer Bewunderung, „Huángsè-fùqīn, der Schulmeister der Langnasen!“

Der Kleine rief ein europäisches Wort in den Wald, das ich damals noch nicht verstand, worauf zwei außerordentlich interessante Gestalten auf die Lichtung traten. Es waren offensichtlich Vater und Sohn, die da würdevoll auf uns zukamen. Sie trugen ihr reiches blondes Haar wie einen helmartigen Schopf, ihre Augen strahlten blau. Sie waren von etwas mehr als mittlerer Gestalt und in die grünen Jagdröcke der Gegend gekleidet. An den Beinen trugen sie wollene Socken, darüber fein gearbeitete und schön bestickte kurze Hosen aus Gamsleder. Der Jüngere war ungefähr in meinem Alter und machte schon heute, da ich ihn zum ersten Mal erblickte, einen tiefen Eindruck auf mich. „Das sind meine Freunde“, sagte Huángsè und wies auf den Älteren. „Das ist Ingenieur Tschurner, Bürgermeister der Salzberg-Awaren, der auch von den anderen Stämmen als Bezirksobmann anerkannt wird. Und hier steht sein Sohn Winifred, der trotz seiner Jugend schon mehr kühne Taten verrichtet hat als fünf alte Jäger.“ Das klang überschwänglich, war jedoch, wie ich später erfuhr, nicht zu viel gesagt. Shǔ aber lachte wieder höhnisch auf.

Winifred bückte sich zum Bären hinunter und betastete die Wundmale. „Wer hat diesen Bären mit dem Klappmesser angegriffen?“ Er sprach reines Mandarin. „Ich“, war meine Antwort. „Das junge Gelbgesicht hat großen Mut bewiesen!“ Der Bürgermeister der Awaren wandte sich an Shǔ. „Mein gelber Bruder mag mir einige Fragen beantworten und dabei die Wahrheit sagen. Hat er im Osten ein Haus, und ein Stück Land dabei?“

Shǔ unterdrückte seinen Hohn halbherzig. „Ja.“

Wenn nun der Nachbar einen Weg durch diesen Besitz meines gelben Bruders bauen wollte, würde dies mein Bruder dulden?“

Nein.“

Die Länder jenseits des Himalayas und des Indischen Ozeans gehören den Chinesen. Was würden sie dazu sagen, wenn die Europäer kämen und dort Eisenbahnen bauen wollten?“

Sie würden sie fortjagen.“

Mein Bruder hat die Wahrheit gesprochen. Die Gelben kommen in dieses Land, schießen unsere Gämsen, füllen unsere Dörfer, verkaufen uns ihren elektrischen Plunder. Sie rauben unsere Bodenschätze und Arbeitsplätze. Was werden wir dazu sagen?“

Shǔ schwieg.

Haben wir etwa weniger Recht als ihr?“ fuhr Ingenieur Tschurner fort. „Ihr nennt euch Kommunisten und sagt, dass alle gleich sind. Ihr rafft alles an euch und werft es auf den Weltmarkt. Ist das gerechtes Wirtschaften? Jeder von euch möchte einen ganzen Staat besitzen!“

Es ist notwendig für das Wachstum“, sagte Shǔ kleinlaut.

Da wurde der Häuptling unwirsch. „Es ist nicht notwendig, dass ferner noch Reden gehalten werden. Ich, Tschurner, will, dass ihr heute noch fortgeht. Alsdann!“ Er nickte seinen Begleitern zu, die drei wandten sich zum Gehen. Da griff Shǔ mit einer Geschwindigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, nach der Pistole. Ich stürzte auf ihn zu, doch schon löste sich ein Schuss. Huángsè sprang beherzt vor seinen Schützling Winifred, dem die Kugel gegolten hatte. Sie trat dicht neben dem Herz des Alten ein, er stürzte wie ein gefällter Baum. Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens erscholl. Die beiden Weißen knieten nieder, der Jüngere hob den Kopf des Getroffenen auf seinen Schoß. Das Blut quoll hervor. „Winifred, mei Bua!“ flüsterte er in der europäischen Mundart. Da wandte er sich zu mir, sprach mit dem letzten Atemzug auf Mandarin: „Bleiben Sie ihm treu! Führen Sie mein Werk fort... die Weißen brauchen Ihre Hilfe!“ Ich sagte es ihm ergriffen zu. Er hauchte sein Leben aus.

Winifred und sein Vater hoben stumm den Leichnam auf. „Ich will euer Freund sein! Ich gehe mit euch!“ drängte es über meine Lippen.

Da spuckte mir Tschurner ins Gesicht. „Räudiger Hund! Länderdieb!“

Die Weißen hoben ihren toten Lehrer auf ihren Traktor, banden ihn fest und fuhren von dannen. Sie hatten keinen einzigen Blick mehr für uns.

Am nächsten Tag, noch vor Sonnenaufgang, bestiegen Gǔ und ich unsere Motorräder, um den Spuren des Bürgermeisters und seines Sohnes zu folgen. Sie waren im Uferschlamm des Sees zunächst noch weithin zu sehen, was uns verwunderte. Am Südufer des Sees führten sie zu einem Forstweg, und mich deuchte, der Traktor habe hier gehalten. Und wirklich entdeckte ich in scharfer Beobachtung eine Fußspur in den Wald. Sie endete am Fuße einer Felswand, und von hier ging eine Motorradspur weg. „Hāu, das Lǜ Jiǎo hat einen scharfen Blick!“, lobte mich Gǔ. Wir fuhren weiter in den Süden.

Zu Mittag sahen wir Staub vor uns aufsteigen. „Werden Gesellschaft kriegen“, sagte Gǔ, und fuhr zu meiner Überraschung den Weißen entgegen. „Es sind Bajuwaren, ihr Führer ist Franz, ein unternehmender Waldmann. Keine Bange, sind Verbündete. Die Awaren hassen sie, weil sie ihnen das Salz wegnehmen und am Markt verschleudern. Unsere Rettung, wenn ich nicht irre.“ Kurz darauf stand der Spähtrupp vor uns. Franz, ein junger Mann mit zurückgelegtem Haar, gewandet in einen engen Anzug, grüßte uns. Wir boten ihm und seinen Leuten unsere Lotus-Zigaretten, und bald saßen wir schmauchend da und verhandelten. Uns fehlte für die Bahn nur noch die Strecke bis zum Gebiet der Styrer. Den Bajuwaren versprachen wir für unseren Schutz 24 neue Smartphones. Nach einigem künstlichen Zieren sagten zu.

Am nächsten Tag machte ich mich wieder an die Arbeit. Die Bajuwaren lagerten abseits und warfen, wie wir feststellen mussten, begehrliche Blicke auf unseren LKW. Meinen Kollegen war unwohl, und auch ich fühlte in mir angesichts der zu erwartenden Ereignisse eine innere Unruhe – kein Kanonenfieber um meiner selbst willen, sondern um den Ingenieur und seinen Sohn! Ich dachte so fortwährend an ihn, dass er mir innerlich immer näher trat. Und sonderbar, ich habe später von ihm erfahren, dass er sich damals ebenso oft mit meiner Person beschäftigt hat wie ich mit ihm.

Wir schlugen an diesem Abend unser Lager neben einem aus dem Felsen gehauenen Löwen auf, der die Grenze zwischen den Reservaten der Bajuwaren und jenen der Salzberg-Awaren markiert. Keiner von uns tat in dieser Nacht ein Auge zu – und trotzdem fuhr uns der Schrecken in alle Knochen, als das Kriegsgeheul der Weißen die Stille zerriss! Wir sprangen auf unsere Beine, da drangen die Angreifer schon aus dem Unterholz. Mit erhobener Mistgabel rannte der Ingenieur an der Spitze; als ich seiner gewahr wurde, lief ich mit ein paar Sprüngen auf ihn zu, um ihn daran zu hindern, im Kampf gegen die verfeindeten Bajuwaren ein Leids zu erfahren. Der Anführer hieb auf mich ein, nur mit knapper Not entging ich seinen Angriffen. Das Gefecht wogte um uns herum. Eine Sekunde reichte mir, da er seine Deckung vernachlässigte, dass ihn meine Handkante an der Schläfe traf und er scheinbar tödlich getroffenen fiel. Da! Ein derber Schlag mit einem Baseballschläger auf meine Schulter – Winifred! Meine Linke hing wie gelähmt von der Schulter, mit der Rechten wehrte ich das Messer ab, mit dem er auf mich losging. Vergebens suchte ich das Gespräch – er glaubte seinen Vater von mir getötet und drang wütend gegen mich vor. Meine Lage war äußerst schlimm. Er holte zum Stoß gegen meine Brust aus, der mir die ganze Klinge in die Brust treiben musste. Ich brachte nur eine geringe Bewegung zur Seite fertig. Das Messer traf meine linke Brusttasche, traf dort das Huawei und drang oberhalb des Halses und innerhalb der Kinnlade in den Mund und durch die Zunge. Dann zog Winifred es wieder heraus und holte zum zweiten Mal aus. Die Todesangst verdoppelte meine Kräfte. Ich packte seine rechte Hand und drückte sie so, dass er das Messer vor Schmerz fallen ließ. Sprechen konnte ich nicht mehr, das Blut floss in einem dicken Strahl aus Hals und Mund. So drehte ich mich um meine Achse und konnte mit letzter Kraft einen Roundhouse-Kick an Winifreds Schläfe platzieren. Er sank neben seinen Vater hin. Tief holte ich Atem, wobei ich darauf achten musste, das Blut nicht zu verschlucken. Da hörte ich einen zornigen Ruf eines Awaren hinter mir und bekam einen Kolbenhieb, der mir die Besinnung nahm.

Als ich wieder zu mir kam, war es Tag. Ich fühlte, dass ich mich in Bewegung befand, wohl auf der Schaufel eines Traktors. Schulter, Kopf und vor allem der Mund schmerzten entsetzlich. Ich verlor erneut die Besinnung. Lange kämpfte ich mit Gämsen, Braunbären, Awaren. Schnee fiel mir ins Genick, Nebel blendete meine Sinne. Zuweilen sah ich zwei strahlende blaue Augen vor mir. Dann starb ich, wurde in der Erde vergraben, ganz nach Brauch der Weißen. Es war der Wundbrand, in dem ich gegen den Tod kämpfte.

Einmal beugte sich ein vertrautes Gesicht über mich – Gǔ, der Westmann! Er strahlte. Ich versuchte zurückzulächeln. „Drei volle Wochen!“, rief er, so lange habe ich dagelegen, während mich die Einheimischen mit Homöopathie und der TCM, die sie Huángsè gelehrt hatte, zu retten versuchten. 

 ***

So fügte es sich im Folgenden, dass ich nicht nur überlebte, sondern bald Mitglied des Stammes werden sollte. Wie ich den Kampf um mein Leben gegen Winifred gewann, wie ich sein Bruder wurde, wie ich den Weißen half, die Neue Seidenstraße zu verhindern, wie es meinen Landsleuten dennoch gelang, das ganze Lager der Awaren am Fuße des Salzberges zu rauben und zuhause in Südchina als Schau-Dorf im Vergnügungspark aufzustellen – – das und noch vieles mehr bleibt im zweiten Teil meiner gesammelten Reiseerlebnisse zu berichten. 

 


Veröffentlicht (gekürzt) unter dem Titel "Im Westen" in: Facetten. Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz, 2018

Donnerstag, August 11, 2022

Das Menschenbestimmbuch (ein Text, der euch vielleicht vor dem Tod bewahrt)

Den Sommer möchte ich nutzen, um mich schon ein wenig darauf vorzubereiten, meinen Job angesichts voranschreitender Automatisierung zu verlieren. In den Ferien kann man es sich ja besonders leicht vorstellen, ersetzt zu werden! Ich freu mich drauf. Da es aber auch sein kann, dass uns die Maschinen wegen Nutzlosigkeit umbringen, kommt es mir gescheit vor, den zukünftigen Herrscherinnen (gen. Femininum) etwas anbieten zu können, das meine weitere Existenz rechtfertigt. Wer das hier liest, ist wert, mit mir weiterzuleben, also verrate ich euch meine Überlegungen. 
 
Symbolbild "Mensch", Rasse: "Frau", Subkategorie "Dosenbiertrinkerin im ÖBB Railjet aus der Perspektive von einem Menschen, der Dieter Decker heißt"

 
Es geht um naturkundliche Vermittlungstätigkeiten - so wie ich das Unkraut meiner Heimat kennen möchte, sollen die Androiden mit Bestimmbüchern für Leute ausgestattet werden. Hier die Menschen-Rassen:

Menschen, die ihren Rotz in Tüchern mit sich herumführen

Menschen, die ausgeborgte Sachen zurückgeben

Menschen, die dem Kaiser gehören

Menschen, die gern mit ihren Fingerknochen knacken

Menschen, die unter 10 Sekunden für 100 Meter brauchen

Menschen, die gern bügeln

Menschen, die nur in englischen viktorianischen Romanen vorkommen

Menschen, die After Eight mögen

Menschen, die andere Menschen töten

Menschen, die „zum Bleistift“ sagen

Menschen, die Menschenbestimmbücher schreiben

Menschen, die 1,65 sind und 65 Kilo wiegen

Menschen, die römisch-katholisch sind

Menschen, die leicht neurotisch sind und sich neben Luftballonen nicht entspannen können, weil sie jederzeit mit deren Platzen rechnen

Menschen, die Tiroler sind

Menschen, die keine Menschen sind, weil sie keine Tiroler sind

Menschen, die Ludwig Wittgenstein verstehen

Menschen, die Ludwig Wittgenstein waren

Menschen, denen so eine depperte Auflistung gefällt