Mittwoch, Juni 10, 2020

Sudernde Sudeten

Da sich das Ende des Zweiten Weltkriegs im Westen Europas zum 75. mal jährt und in den OÖN der "Stunde null" gedacht wird, budeln sich auch die organisierten Sudetenvertreter wieder auf. Ich denke, das ist ein passender Anlass dafür, ein Kapitel aus "In der Heimat der Fußkranken" hier hereinzukopieren.

Sudernde Sudeten

Viele ältere Mühlviertler sind auf ihre Nachbarn im Norden gar nicht gut zu sprechen. »Die Tschechen tun ja grad so, als ob ihnen Gott dieses Land geschenkt hätte!«, ereiferte sich jüngst ein älterer Arnreiter, der als Sudetendeutscher nach 1945 vertrieben worden war. Als hätte Gott den Sudeten oder irgendjemand anderem Wald und Wiesen geschenkt. Als hätte Hitler nicht Krumau und Kaplitz 1939 gewaltsam an „Oberdonau“ angegliedert.
Die Sudeten – eigentlich der Name jenes Gebirgszuges, der Deutschland, Tschechien und Polen verbindet – haben aus ihrer Sicht Grund, mit den Tschechen über Kreuz zu sein. Die ersten von ihnen hatten ab dem 12. Jahrhundert die Grenzregionen Böhmen und Mährens kolonialisiert. Pest und Kriege entvölkerten das Land und lockten weitere Siedler an. Unter den Habsburgern gab bei der Volkszählung von 1910 ein Drittel der böhmischen Bevölkerung Deutsch als Umgangssprache an (2,2 von insgesamt 6,6 Millionen Menschen).
Am 1. Oktober 1938 wurden die Sudetengebiete mit ihren insgesamt 2,9 Millionen deutschsprachigen und 700.000 tschechischsprachigen Bewohnern „heim ins Reich“ geholt. Heute beraten Historikerinnen darüber, ob nicht genau hier ein guter Zeitpunkt für den Rest Europas gewesen wäre, Hitler militärisch auf die Finger zu klopfen, zumal die mit dem Sudetenland annektierten Grenzbefestigungen später von der Wehrmacht als uneinnehmbar erachtet wurden und die tschechoslowakische Armee zu diesem Zeitpunkt eine der bestausgerüsteten Mitteleuropas war.

Nach dem Ende der NS-Herrschaft kamen die von der tschechoslowakischen Exilregierung in London ausgearbeiteten 143 „Dekrete des Präsidenten der Republik“ zum Tragen, nach denen 2,9 Millionen Menschen als „staatlich unzuverlässig“, ergo Staatsfeinde eingestuft wurden. In Österreich, Deutschland und Ungarn werden sie gerne „Beneš-Dekrete“ genannt, vielleicht weil die Reduzierung auf eine Person noch dämonischer wirkt. Die Dekrete betrafen auch die 2000 bis 3000 überlebenden Juden (von ursprünglich 40.000), die sich bei der Volkszählung als ›deutsch‹ deklariert hatten. Ihr zuvor „arisiertes“ Vermögen wurde nach dem Krieg als deutscher Besitz konfisziert. Trotz eines späteren Erlasses zugunsten der solcherart erneut Beraubten sahen diese ihren Besitz nie wieder – die kommunistische Partei verfolgte bekanntlich die Strategie der Verstaatlichung privaten Eigentums.
Die Tschechen waren jedenfalls durchaus gründlich bei der revanchistischen und von den Alliierten geduldeten „Ausbürgerung“, obwohl die Dekrete an sich eine derart systematische Vertreibung nicht rechtfertigten. Nach einigen öffentlichen Ansprachen von Präsident Edvard Beneš kam es im Mai 1945 zu „wilden Vertreibungen“, sprich: brutalen Massakern. Die Zahlen der Todesopfer schwanken zwischen 18.816 und 270.000.
Es verschwanden nicht nur die Menschen, sondern auch deren Häuser. Ganze Dörfer wurden bis auf den letzten Stein abgetragen. Vor einigen Jahren besuchte ich das malerische Ktiš nahe Prachatice. Dort liegen auf dem Friedhof der 1310 erbauten Kirche noch die Ahnen der Sudeten. Ansonsten ist außerhalb des Dorfes kein Stein ihrer Höfe mehr zu sehen; alte Fotos wirken angesichts der heutigen Leere wie eine Fata Morgana.
In das entvölkerte Sudetenland zogen nach dem Krieg Tschechinnen aus dem Landesinneren und dem Ausland. Viele der Vertriebenen flüchteten nach Oberösterreich. Etliche meiner Freunde haben sudetendeutsche Großeltern. Laut Erzählungen waren die Großeltern naturgemäß traumatisiert durch das erlittene Unrecht, gleichzeitig aber froh, nun auf der „richtigen“ Seite des Eisernen Vorhangs zu leben. Ihren Enkeln haben sie keine Ressentiments vererbt. Ganz im Gegenteil zu den organisierten Sudeten.
Die Vertriebenenorganisationen der Sudetendeutschen Landsmannschaften sind ein Erbe, das aus der NS-Zeit über uns gekommen ist. Nicht umsonst wird bei ihnen vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) eine Nähe zum Rechtsextremismus erkannt; politisch sind sie wie alle anderen organisierten vertriebenen „Volksdeutschen“ fest in der Hand des Dritten Lagers – auch in Oberösterreich. „Sie leben in der Vorstellung, sie seien die vergessenen Opfer, dabei wurde besonders auch in Oberösterreich jahrzehntelang ausschließlich über sie geredet, wenn es um die Opfer des Krieges ging, und nicht über 'Zigeuner' oder Juden“, sagt Josef Goldberger vom oberösterreichischen Landesarchiv. „Die Vorgeschichte der Vertreibungen und Übergriffe – die NS-Verbrechen in den jeweiligen Ländern und die Beteiligung von Volksdeutschen daran – wird weitestgehend ausgeblendet“, heißt es auch in der Stellungnahme des DÖW aus dem Jahr 2004.
Vor einigen Jahren plante der Nationalratsabgeordnete Norbert Kapeller, Wehr- und Vertriebenensprecher der ÖVP, ein Museum der deutsch-tschechischen Völkerverständigung in seinem Bauernhof in Leopoldschlag. Das Land Oberösterreich hatte dies zunächst fördern wollen. Im Jahr 2010 zog es aber auf dringliches Anraten verschiedenster Institutionen die Zusage aus politischen Gründen“ zurück, wie Kapeller sagt. Expertinnen weisen darauf hin, dass er als Vertriebenensprecher im Lauf der Jahre mehrmals durch diplomatische Grobheiten die österreichisch-tschechische Verständigung gefährdet habe. Im März 2011 trat Kapeller von all seinen politischen Ämtern zurück, nachdem sein Auto in der Kurzparkzone vor dem Linzer Bahnhof abgestellt worden war – mit dem Behindertenausweis seines vor zehn Jahren verstorbenen Schwiegervaters hinter der Windschutzscheibe.
Eine Episode zum Abschluss. Ein Freund aus Wels ist Kind von vertriebenen Banatlern, die seit Ende des 17. Jahrhunderts von den Habsburgern in den nach den Türkenkriegen verwüsteten, entvölkerten Gebieten angesiedelt worden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie brutal aus ihrer Heimat vertrieben. Viele fanden Aufnahme rund um Wels, insbesondere in Gunskirchen oder Marchtrenk. Ihnen verdankt die Gegend kulinarische Errungenschaften wie Tomaten, Paprika und Knoblauch. In den Gärten der Exilantinnen soll es keinen Flecken gegeben haben, der nicht der Ernährung diente. Mit den alten Menschen stirbt allmählich das ganz spezielle Banater Deutsch aus. Mein Freund erzählt, dass es – nach Jahrzehnten unauffälligen Zusammenlebens – sofort nach dem Aufstieg Jörg Haiders auf dem Welser Wochenmarkt zu sehr hässlichen Szenen kam. Etliche heimatbesoffene Männer hörten Banatler sprechen und pöbelten die vermeintlichen Ausländer an, sie mögen sich aus Österreich schleichen.