Freitag, Juli 01, 2022

Vergleichsbilanz 2. und 3. Jahrtausend, stressarme Apokalypsen und nackte Nachbarn

Phantomereignisse im Juni 2022

1.6.

Zwei Frauen erzählen einander von Momenten des Glückens an diesem Nachmittag: Poolroboterreparatur vs. beim Leichenbeschau-Workshop den Leiter mit viel Randwissen über Erstickungsmethoden (Berking und Erfrierungsflecken) flashen. 

Diesen Sommer möchte ich einen Ferialjob bei der Polizei, da die obgenannte Frau immer so interessant von den Wohnungen ihrer zu beschauenden Leichen und den herrenlos gewordenen Dingen darin erzählt. Gestern streifte man durch Marie Kondos leeres Wohnparadies. Alles lag auf Kante, thematisch geclustert und aufs Nötigste reduziert. Ein Kastl nur für Stofftiere, zwei pro Fach. Ein originalverpacktes Mon Chi Chi, wahrscheinlich im Internet um ein Vermögen zu versteigern. Die ganze Wohnung verströmte viel einsame Uncannyness, die ins offen Gruselige umschlug, als die Frauen ein Kastl öffneten und sie daraus lauter identische Puppen anstarrten.

Bei Gelegenheit etwas über den Zeitpunkt schreiben, an dem man – sich selbst alleinerziehend oder in einer Folie à deux – ins manifest Skurrile kippt. Eine interessante Ambivalenz: Symptom stummer Seelenpein, aber auch Ausdruck der voll entwickelten Individualität, „mir wurscht, ich kann leben, wie ICH will!“

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Wenn man älteren Menschen analoge Post schreibt, fällt einem auf, wie unsicher man ganz ohne Emojis small talkt (small writed).


2.6.

Die Lieblingsrichtung des Hundes ist bergab, bergauf läuft sie nur aus Gehorsam.

Mit jedem erfüllten Wanderziel tun sich sieben neue auf, das Wanderhaupt der Medusa. Und wenn mir die Überraschung gelingt, 90 zu werden, bin ich bestimmt nicht auf allen Pfaden gegangen, selbst wenn ich nur noch im Sengseng und Prielgebiet bleibe. 

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Heute habe ich genau so lang im 2. wie im 3. Jahrtausend gelebt, es ist Zeit für eine Vergleichsbilanz:

2000er 3. Jtsd.

Playmobil

Gleitsichtbrille

Taschengeld in Schilling

Taschengeld (=„Honorare“) in € (Inflation

Schwarze Nummerntafel

Schwarze Nummerntafel wegen Dreck, weil ich das Auto endlich putzen sollte

Waldsterben

Klimawandel

MTV

Ö1 (außer es ist wieder Oper oder Religion aktuell, dann FM4, und wenn da zu aufgekratzte Laune ist, immer öfter Radio Vierkant)

Holzfällerhemden, dem Vater gestohlen

Holzfällerhemden, vom Vater geerbt

Flaschendrehen

Eingetragene Partnerschaft

Heavy Petting

„Wir sollten es wieder einmal tun.“

Angst vor Teenieschwangerschaft

Warten auf den Wechsel

Kalter Krieg

Militärische Spezialoperation

Ihr vertelefoniert euer ganzes Erbe!“

Hilfe, mich ruft jemand an!!!!“

Akne

Akne

Babyspeck

Winkfleisch

1 Pizza

2/3 Pizza (schwindende Fressleistung per Tortendiagramm illustrieren)

Streetball

Pilates gegen Kreuzweh (theoretisch)

Sieben Farbfilme/Jahr mit der Pocketkamera, die ich zur Firmung geschenkt bekommen habe

34151453456 Bilder mit 2134 Milliarden Megapixel auf verschollenen Festplatten

Rockmusik

Barockmusik

Crossover

Bruckner (oder irgendwas)

Drei bis vier beste Freundinnen

3456 „Freunde“ auf Facebook

Muttertagsgedicht

Matriarchat

Muttertagsblumerl, schnell aus der Wiese gerupft

Grabblumen,die nicht immer so schnell verdorren

„Die Kinder von Bullerbü“ bzw. Derrida

Bedienungsanleitungen, Notariatspost, Kochrezept Hollersaft

Monty Python's

Lesebühne

Thomas Bernhard, Dostojewski

Autosendungen auf DMAX

Strafe fürs Schwarzfahren

Stromnachzahlungen

Rasenmähen, weil einen der Vater dazu vergattert hat

Rasenmähen, weil man keine Kinder hat, die man dazu vergattert

Milch beim Bauern holen

Darf man noch „Milch“ sagen?

Butter unter Leberwurst

Acai-Beeren auf Wasabischaum-Quinoa-Baiser

Icebreaker, saurer Apfel, warmes Bier, Ribiselwein, Eristoff (ALLES, Hauptsache es fährt)

„Welche Craftbiere habt ihr denn?“

Amalgam, lieblos in die Karieslöcher gepfriemelt

Sauteure Keramikinlays, liebevoll in Karieslöcher eingepflegt

1000 Sachen, die man noch lernen möchte

1000 Sachen, die man in diesem Leben auch nicht mehr derlernt

Willst du mit mir gehen? Ja Nein Vielleicht

Zahlt sich noch jemand neues aus?

Depperte Sätze, mit denen einen die Eltern schimpfen

Depperte Schimpfsätze der Eltern purzeln aus dem eigenen Mund

Lachen über Freundinnen in Mom-Jeans

Lachen über Teenies in Mom-Jeans

Cypress Hill

Kreisky

Ich ziehe einmal nach New York!

Hallo Gemeinde Wilhering, ich brauche neue gelbe Säcke

165 cm

164 cm

Jörg Haider

Herbert Kickl

Größte Angst: sitzen bleiben

Altersarmut

Käsetoast

Käsetoast

Die grüne Twinnie-Hälfte

Das ganze Twinnie und noch ein zweites, weil ich ERWACHSEN bin und tun kann, was ich will!!!!!

Forsthaus Falkenau, weil auf FS 1 auch nichts ist

Irgendeine gehypte Netflix-Miniserie, die einen überfordert

Bolero

Champagner

Golden Girls auf FS 2

Golden Girls auf Disney+





 

3.6.

Derzeit viel Klassik beim Erb-CD-Durchhören. Von Haydn ist eine „Harmoniemesse“ enthalten. Vielleicht finde ich noch eine „Energiemesse“ oder eine „Landwirtschaftsmesse“. Der erste Satz ist „Bewegt, nicht zu schnell“, das gilt für die Symphonie meines Lebens auch. Von Bruckner ist sehr viel gefladert worden, darf ich feststellen. Schön der Beipacktext zur Vierten: „in der Gesangsperiode ist das Thema: der Gesang der Kohlmeise Zizibee.“

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Mad in China

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Der Kirschbaum hängt voller reifender Früchte, aber es ist keine einzige mehr so zu erreichen, dass sich Aufwand und Gefahr lohnten. Auch irgendwie schön und lehrreich für das Menschenleben.

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Olaf Scholz mit dem deppertsten Kriegs-Euphemismus seit Putins Spezialoperation: „Bekämpfungsvorgänge“.

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Bier, Ländermatch, Couch. #bliss

5.6., Pfingsten

Weltuntergang, vom Stressless im Wintergarten aus betrachtet.


6.6.

Trotz zerschnittener Finger Glück: Mehr als 48 Stunden ohne eine Minute im Auto.

7.6.

Ein Falke speit mir vom Starkstromkabel herab aufs fahrende Auto. #landleben #mobilität

8.6.

Durch den Höllgraben, an den Mühle- und Vagina-Petroglyphen hinauf auf die Wurzer Alm, wo eine Schulklasse von einer Ortskundigen belehrt wird. „I sog's jetzt in da Mundoat: Niglo, stich d'Kotz o! Ja, früher haben die Menschen Katzen gegessen. Und zwar im Winter, wenn sie am fettesten waren. Das ist gescheit von der Natur, denn: Was? Ja, das Fett schützt vor Kälte!“

9.6.

Während des morgendlichen Zähneputzens erkläre ich dem Mann, dass ich ab jetzt eine Wiedehopf-Gefährdungs-Awareness-Frisur zu tragen gedenke. Er rollt kurz ein Auge zu mir herüber. „Zum Glück hast du jetzt wenigstens einen schönen Hund.“

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Der hübsche Hund ist offenkundig nicht mit Bruckner zu begeistern, bei der 3. verkriecht sie sich tief im Kellergewölbe unter dem Ofen.

10.6.

Spatzenrekord (7!) im Bürovogelhaus. Lustig, dass ich gerade über Overtourism schreibe.

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Daniel Wisser nennt das Rezipieren schwieriger Musik „molekular hören“. Seine Erzählung vom Alkotest, der bei fremder Leute Kinder wegen Eierlikörmissbrauchs anschlug, war sehr erbaulich. Danach hochwertiges Ausrichten der Kollegen, sodass ich nicht nur wegen Ambitionslosigkeit und impostor syndrom kein Teil des Literaturbetriebs werden möchte.

11.6.

Beim Schl8hofball bin ich die einzige, die sich nicht verkleiden darf, weil ich arbeiten muss. Zur Disziplinierung drohe ich dem vergnügungssüchtigen Volk, dessen Herrschaft ich öffentlich in Abrede stelle, einen instruktiven und mehrstündigen Vortrag über die antike griechische Geisteswelt an. Doch die Schlingel sind dermaßen sinnlos begeistert von ALLEM, dass mir auch zur Mitternacht nicht gelingt, sie mit angedrohten Ausführungen über die „Wiege der Demokratie“ hinein zu treiben. Ich bekomme sehr viele Küsse und gehe vor 1:00 heim, weil ich eh meine vier Bier schon drin habe.

Notiz: Businessmodell „Drohvortrag“ ausarbeiten

12.6.

Ohne Hund hätte ich heute trotz Gutwetters das Haus nicht verlassen, und daran ist nichts falsch, denn aktuell ist Zufriedenheit mit meinem Tagespensum sowieso nicht zu erreichen, obwohl tatsächlich kein Tag vergeht, an dem ich gar nicht arbeite. 

Es ist nämlich so wie beim Wandern (s.o.): Mit jeder erledigten Aufgabe erheben sieben neue ihr schreckliches Haupt. Die To-Do-List schwillt wie die Füße alter Leute.

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Mir träumte, dass das bodenlos schiache Haus in René Monets Nachbarschaft völlig zu Recht eingestürzt sei, als ob die Statik die Last der Optik nicht mehr ertragen wolle.

12.6.

Ein Tag erschöpfter Faulheit. Grad, dass ich noch selbständig aufs Klo gehe.

13.6.

Eine Woche, in der ich in meiner Vorstellung alles bei entsprechender Disziplin an einem einzigen Tag schaffen könnte. In Echt: hahahaha.

14.6.

Der Auftritt in Enns wird mich alle künftigen Negativ-Battle-Raps mit dem schreibenden Volk gewinnen lassen: 0 Teilnehmende am Demokratiequiz trotz intensivster Vorbereitungsmühen seitens der Veranstalterinnen.

15.6.

Als ich dem Misik vom Publikumsnuller erzähle, burnt er mich sogar an der Nulllinie: Er sei einmal nach Hamburg zu einer Podiumsdiskussion geladen worden, wo sechs Teilnehmer vor nicht einmal den Veranstaltern saßen.

Auch im Garten der Geheimnisse werden wir quantitativ nicht verwöhnt, menschlich durchaus, und es ist malerisch schön. Vielleicht wollen die Menschen nicht mit Gartenblick von den Krisen der Moderne hören. Ich kann mich auch nur konzentrieren, weil ich mit dem Rücken zum Großen Priel sitze.

16.6.

In zwei Autos telefonierend nach Wien: So lösen wir die Spritpreiskrise auch nicht. Mit Härte gegen mich selbst heute schon um 1:30 mit Trinken aufgehört.

17.6. Wien / Flatzer Wand

Bei Gelegenheit etwas über die Lenkung der konsumsüchtigen Massen durch Preisspanne: maximale Kundschaftsspanne zwischen TK One und dem Modehaus Hämmerli. Totale Erschöpfung nach dem unbefriedigenden Marsch durch die Mode-Institute. Es gibt nichts Gescheites anzuziehen!

Sofortige Erholung, sobald die Füße keinen Boden mehr unter sich spüren. Erholungstipp Todesangst! Ich bin dem Felsen so entwöhnt, dass dafür schon ein vorgestiegener 5+ reicht.

18.6. Poltern am Hochschwab

D. stellt fest, dass man ab einem bestimmten Alter keinen Stripper mehr will, der aus der Torte springt, sondern einen Masseur. Ein sehr wahres Wort. Die Damen haben mir heute aber auch so eine große Show geboten: Murmeltiere verpfeifen uns, wir jausnen neben Steinböcken, führen Gespräche über Cunnilingus („Nie mehr ohne!“). 


19.6.

Erschöpft und glücklich zurück in die brüllende Hitze der Ebene. Vergleich der Schrittzähler: Birgits Uhr zeigt 3000 mehr an, wegen kürzerer Beine. Heim durch unbekannte Landschaften.

21.6.

Auf der Straße. „Wieso bist du eigentlich nicht in deiner Arbeit, Nachbar?“

Weil ich nackert auf dem Balkon stehe!“

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Viel Schönes bei „Was wir lesen“, etwa den Spruch von Augustinus: „Sündige tapfer!“ Und: „Gefühle sind die Sache des Lesers.“ (Quelle vergessen). Letzter Berufstermin vor den großen Ferien!

22.6.

Einer erzählt von einem Polterwochenende, bei dem die schon vor Abfahrt beschickerten Herren udaungs in einem Familienhotel eingecheckt haben. Der Mann an der Rezeption ließ die schwankende Männerrunde ausnahmsweise eine Nacht bleiben, aber unter strengen Auflagen. Als er ihnen das Zimmer zeigt, rennt der Bräutigam auf den Balkon und speibt herunter.

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Abends nach Wels-Land. Man denkt tagsüber, dass man für neue Freundschaften im Grunde gar keine Zeit hat und freut sich abends, das man sich irrt. Die Gastgeber haben mit dem Haus einen Auerhahn gekauft, den die Flohmarkttandler gar nicht auf den freien Markt gelassen haben, wahrscheinlich waren die 200 € dafür noch zu billig.

23.6.

NICHTS <3

24.6.

Ich optimiere mein Sommerferiengefühl noch durch den Austritt aus einer NGO. Das schlechte Gewissen habe ich seit 1978 ertragen gelernt.

26.6.

25 Stunden für die Ewigkeit! Vielleicht ist das Glück ja wirklich mit den Tüchtigen. Die Nacht auf dem Kleinen Priel will fast nicht anbrechen, stundenlang bleibt das letzte Licht am Horizont, und wegen der grenzenlosen Aussicht vom Gipfel wirkt es so, als ginge in der Früh die Sonne sofort wieder auf, nachdem sie hinter dem Traunstein verschwunden ist. Sogar die Autobahnraststätte unten in St. Pankraz bekommt in dieser kurzen Nacht Glanz von all der Schönheit ab. Sie wirkt ganz nahe, aber man ist in einem völlig anderen Leben.

Die Überschreitung des Prielkamms gelingt überraschend gut – man muss sich der Gefahr eben wirklich stellen. Weil das aber anstrengend ist und andere (alle) schneller sind bzw. dann auch noch auf den Großen Priel gehen, glaube ich gleich wieder, sehr schlecht beisammen zu sein. Zum Glück kennt man sich und seine Torheiten schon seit ein paar Jahrzehnten. 

29.6.

Welsens neue Stadtschreiberin Marija Pavlović erzählt vom Antrittsbesuch beim Bürgermeister, dem man schon ihr Buch gegeben hatte, und der ihr sofort Komplimente für ihr ausgezeichnetes Deutsch machte, aber sofort grämlich dreinsah, sobald sie den Mund aufmachte und sich in ihrem auch hervorragenden, aber eben akzentierten Deutsch bedankte und darauf hinwies, dass ihr Buch übersetzt worden ist. In diesem Moment verwandelte sie sich in die Ausländerin, der gegenüber er die Probleme mit der Müllabfuhr im dreckigen Kreuzberg erörtern zu müssen glaubte (ohne zu wissen, dass sie dort lebt). Und er wusste auch noch nicht, dass sich die Hauptfigur in „24“ arschlings von einer Domina penetrieren lässt. 

Marlene Gölz kann in Sachen „peinlicher Bürgermeister“ nicht mitreden, ihr Eferdinger ist ja schwul und gut so. Sie kann es aber immer noch nicht fassen, dass die Leute in der Stadt ohne jede Ironie vom „Fürsten“ (Starhemberg) sprechen.

30.6.

Wieder NICHTS <3 (=den ganzen Tag irgendwas aufräumen)

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