Dienstag, August 10, 2021

Mein patschertes Leben im Zentralraum, mein Tod in Argentinien, mein Nirvana im inneren Salzkammergut

Phantomereignisse im Juli 2021

2.7.

Weniger mit Sorge denn Wohlwollen beobachte ich, wie die ersten von uns schrullig werden. Vielleicht kann sich die Generation X bald von den Boomern und den Snowflakes emanzipieren, die sie so hart sandwichen. Wir werden ja zerrieben zwischen alten, weißen Männern, die uns „spießig“ nennen, wenn wir nicht mit ihnen ins Bett gehen und uns davor noch ihre besten Rolling-Stones-Konzertanekdoten anhören wollen. Andererseits beschimpfen uns die woken Kids, weil wir sie mit dem Diesel zum StandUp-Yoga-Workshop chauffieren. Vielleicht hilft uns das Seltsamwerden aus dieser rush hour des Lebens.

5.7.

Um einen spontanen Akt des Erwachsenseins zu setzen, gehe ich zum ersten Mal in meinem Leben zu meiner Hausärztin (ich war auch noch bei keinem Hausarzt), die ganz überrascht ist, für mich zuständig zu sein. Den Kaktusstachel in meinem Zeigefinger findet sie nicht – wie auch, es ist gar keiner drin – sie lobt mich aber, dass ich nicht weine, während sie unter meiner Haut nach dem Phantom sucht. 

9.7.

Man hat mich nach Scharnstein zum Lesen geladen, und es ist nur schön. Irgendwo hört man Kinder, die ihren ersten Tag ohne Schule feiern, daneben junge Ziegen, die ihren ersten Tag ohne Stall beklagen (sie stehen lost im hohen Gras). Grillen und Hunde tun, was sie tun. Das Thema ist „Stadt – Land – Fluss – Berg“, aber wir sind alle Team Land, und die KollegInnen haben dazu auch viel Schönes zu sagen. Als ich dann die Episode vorlese, dass jemand Derrick gebingewatched habe, halte ich inne und sage „Oh, Sie sind ja zu jung, um Derrick zu kennen!“, da ruft einer „Ich bin zu alt, um Bingewatchen zu kennen!“

10.7.

Ein Ausflug in die „exotische“ Heimat Bad Wimsbach-Neydharting. Wir bekommen etliche No-More-Bäder gezeigt, wohl eine Folge des Klimawandels. Wir unterschätzen die Kraft des Mostes und erleiden einen sehr anregenden Rausch. 

Abends wird auf dem Gelände des Marchtrenker Ural-Importeurs der mitreißende Film „972 Breakdowns“ über eine wahrlich verrückte Motorradreise von Halle nach New York gezeigt, es ist eine anregende Qual, den jungen Leuten bei ihrer Aventûre zuzusehen. „We wanted to make you feel guilty!“ wird der Este Kaupo nachher zu uns Zimmerlinden sagen, und eine, die ich sein könnte, sagt: „We are catholic here, we can deal with guilt.“  

11.7.

Eine Modetheoretikerin, die im Falter über neue BH-Trends spricht, heißt Titton.

12.7.

Mein Zahnarzt fährt einen Renault Espace. So einer kriegt weiterhin mein Geld und mein Vertrauen.

13.7.

An manchen Tagen bin ich der König Midas der dummen Arbeiten – alles, was ich anfasse, verwandelt sich in eine hunzende Fleißaufgabe.

14.7.

Die an sich ungemein freundliche Impfärztin fragt, warum ich jetzt erst komme, als habe man mich bei der Jahrgangsmusterung „1945+“ übergangen. Ich geh trotzdem nicht Haare färben, vielleicht darf ich ja bald in Pension.

15.7.

Eine Spätzin hüpft im leeren Futterhaus herum und sieht mich tadelnd an, direkt in die Augen.

Der gute Kutzenberger schreibt, dass er mich und den Buttinger in seinem nächsten Roman als argloses Touristenpaar in einem argentinischen Putsch umkommen lassen wird. Nicht die Lesung, zu der fast auch Friederike Mayröcker gekommen wäre, ist mein beruflicher Zenith, sondern dieser fiktionale Tod. <3

16.7.

„So ein Haus ist der Feind einer jeden intellektuellen Tätigkeit!“ Der weise Schwager angesichts meiner Ribiselernte. 

18.7.

Highlight der Anthologie „Schlecht gedichtet“: das Dach. Aus der Reihe „Erwachsensein ist scheiße“, Teil 4562.

Teil 4561: „Wir geben jetzt Partys, wo die Putzfrau VORHER kommt“. Highlight dieser Party: Mir wird der Erstgeborene meiner Gattin Anna vorgestellt, sie sagt: „Er hat so einen guten Appetit, man merkt, dass du einer der Väter bist!“

19.7.

„Der Himmel war ein dummes blaues Aug.“ Der „Lenz“ ist wunderbar, aber es ist schwer, ihn nicht diagnostisch zu lesen. Dann wieder: „Du weißt, ich kann es nirgends aushalten, als da herum, in der Gegend wenn ich nicht manchmal auf einen Berg könnte und die Gegend sehen könnte“, und manchmal ist es ihm nur „unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“

21.7.

Man erzählt uns von einer, die sogar noch beim NKD für eine Handvoll Bastelkram Rabatt herausgeschlagen habe, und die ganze Welser Zuhöreschaft erstarrt in Ehrfurcht.

22.7.

Ohrwurm auf dem Grat des Pyhrner Kampls: „Die Angst, die Wut, die Traurigkeit“ von der Laokoongruppe. Diese langen Wanderungen durch die wilden Loigistäler sind vielleicht der Grund, warum ich meinen extinction grief ertrage, hier ist es ja menschenleer und prachtvoll, man muss nur schnell am Windwurf an der Wildalmleiten vorbei. 

23.7.

Fragen an die Soziallandesrätin in Wels. Bürger 1: „Waun hert des auf, dass de Auslända bei die Wohnungen bevorzugt wern?!“ Bürgerin 2: „Gütt des 1-2-3-Ticket aa fia de Auslända?“ In meiner linksliberalen Schl8hof+MKH-Blase habe ich das autochthone Wels ganz vergessen.

Nach der Lesebühne (sie hat uns sehr gefreut, leset!) erklärt uns ein Boomer, er habe sich damals von einem Ex-Vietcong in echter Kampfkunst unterweisen lassen, um sich für die Revolution zu rüsten. Eine Frau, die ich gewesen sein könnte: „Lustig, du hast einen Raika-Sonnenhut auf.“

Rhetorische Kampfkunst beherrsche ich nur, nachdem ich mich beim Lesen ausgebrannt habe (keine Kraft mehr für Höflichkeit).

27.7.

Wenn ich von diesem Jahr nur einen Moment über die Demenz retten darf: Wir essen Kasnudeln im Grundlseer Staudnwirt, während im Radio leise „Smells like Teen Spirit“ läuft.

28.7.

Heute zwei sehr große Aussagen, die ich ganz ohne Ironie in mein Satzschatzkästlein lege. Der erste von unserer Kainischer Herbergsmutter: „Ois, wos vageht, is guad!“ Der zweite vom Veithwirt, eine Antwort auf die Frage des deutschen Gastes, was „Lungenstrudel“ sei: „Lunge, des is Beischl, oiso Lunge.“

29.7.

Am Ortsende von Bad Aussee liegt die Gimpelinsel, und darauf eines dieser Chinarestaurants, wie sie an jedem besseren Ortsende stehen. Ich möchte da hin.

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