Phantomereignisse im Juni 2021
1.6.
Nach zehn Minuten beim Welser Kebapmann ist das Auge besoffen: zwei übercoole junge Männer, die sich bezüglich ihrer schreienden Längs- bzw. Querstreifenoutfits augenscheinlich nicht abgesprochen haben. Eine Nonne geht an einer sehr jungen Frau im Debütantinnenkleiderl vorbei, die sich mit ihrer aufgeganselten Entourage mittels einer Zweiliter-Flasche Roter Eristoff das Augenlicht wegsäuft. Am schönsten der urban outdoorsman, der sich einen „Niveau Beauty for Men“-Schal unter den struppigen Graubart gewunden hat.
2.6.
Ein Alpenspanner kriecht mir auf den Arm, der Stunden später ganz verbrannt von der Schulter baumeln wird (nicht des Falters wegen, sondern wegen schlampiger Sonnenschmierapplikation). Dazu recht ansehnliche Blasen an den Sohlen. Trotzdem ist mir jetzt leichter, ich werde loslassen können.
3.6.
Im Black Horse sitzt einer mit einem „Böhse Onkelz“-Leiberl, niemand tut ihm den Gefallen, ihm eine zu scheuern, nicht der Herr Beer im knallrosa Nick-Cave-Fantextil und auch nicht der soeben den Gastgarten im „Good Night, White Prode“-Pfoad Betretende. Hier werde ich in drei Jahren zu meiner persönlichen antifaschistischen Befreiungsfeier laden: „Hurra, die dunklen Jahre zwischen 38 und 45 sind vorbei!“ Die Wirtshauskatze liegt derweil ungerührt auf einer Dacke am Boden. Dem Vernehmen nach war sie nach dem Lockdown drei Tage in einer existenziellen Krise, weil plötzlich wieder der Pöbel in ihren Garten durfte.
5.6.
Die gute, gute Mayröcker ist gestorben, die im vergangenen Monat nicht mit mir bei der GAV-Lyrik im Mai gelesen hat, näher komme ich an das gleißende Licht des Ruhms nicht mehr heran. Ich denke an die Germanistinnen, die in den kommenden Jahrzehnten in der Zettelhöhle auf Schatzjagd gehen darf. In meiner recht gut aufgeräumten Bude wird man einmal drei buchhalterisch beschriftete Ordner Lesebühnentextis finden und hinten links auf den Dachboden des Stifterhauses stellen. Wenn es sehr hoch hergeht.
„Pedanterie ist der Kobold kleiner Geister.“ Sigourney Weaver in „Copykill“
6.6.
Medienfund des Monats: Im Falter begehrt Itchy Strachy eine Gegendarstellung: Er habe „weder jemals ein Eigenurinamulett noch eine geweihte eiförmige Messingschale in seiner Unterhose zum Schutz bei Auftritten getragen“.
7.6.
V. ruft mich an, wir reden über unsere mangelnden Fortschritte bei der Einrichtung eines Lebens ganz nach unseren Vorstellungen. Ihre Mutter, erzählt sie bewundernd, habe in ihren den letzten, nicht mehr ganz klaren Wochen einmal einer treuen Freundin abgesagt, weil der Putin auf Besuch komme und V. Eierspeis mit Trüffel für die beiden koche.
Berni Wagners neues Programm ist sehr, sehr gut – voll komplexen Zeugs, man mag gar nicht zu lange lachen, um nichts zu verpassen. Aber auch mit Heulern wie dem hier: „Der Mensch ist so ein soziales Wesen, dass er überall Gesichter sieht, an Autos, in Bäumen, auf Toast, sogar an neoliberalen Politikern.“ Prompt träumte mir in der Nacht, dass der Kurz mir die Wohnung versaut hat, er leugnet trotzig, ich werde laut.
8.6.
Heute deutlich vor C. werktätig. Sie: „Man sieht, dass das Universum in Aufruhr ist!“ Dann schummelt sie mir eine Schmähbotschaft ins Vogelhaus auf dem Bürofensterbrett, „Hier, dein erster analoger Twitter-Shitstorm!“
9.6.
In Wels tun die Intellektuellen so, als seien sie ganz durchschnittliche Leute, sie prahlen damit, wie oft sie sitzen geblieben sind. In Wien tun schon Maturanten so, als wären sie Bundeskanzler.
Niemanden verachte ich mehr als die Menschen, die Anstand an die Caritas oder den Betriebsrat oder die Gattin outsourcen.
Wie sehr wir jetzt an unseren Gärten hängen, darauf hätte ich vor 25 Jahren keine 25 Schilling gewettet.
10.6.
Der wilde Steig ins Sengsengebirge ist so schön, als wolle er seine Namensgeber Lügen strafen, und klingt zugleich wie eine rustikale Bierzeltdrohung: „Du beschreitest den Weg zur Fotzenalm!“ Beim Abstieg wiedereinmal im Gekröse aufgelassener Pfade verkoffert.
Nie wollte ich schreiben, dass mir etwas „aus der Seele spricht“, aber seit ich „Der lebende Berg“ von Nan Shepherd lese, bin ich froh, mir die Phrase bis jetzt aufgehoben zu haben: „Oft erinnerte ich mich, zu Hause in meinem Bett, der Orte, die ich leichthin ohne jedes Angstgefühl überquert hatte, und mir wurde kalt, wenn ich nun an sie dachte. Es scheint mir dann, dass ich niemals dorthin zurückkehren könne; meine Angst raubt mir allen Mut, mein Mund ist voller Entsetzen. Doch kehre ich zurück, trägt mich der gleiche Aufschwung des Gemüts hinauf. Gott oder kein Gott, ich bin wieder entrückt.“ Wahrscheinlich gehe ich also wieder ins Turmtal, ins nördliche Wassertal, ins Finsterriegelkar. „Ich bin aus dem Körper heraus – und in die Berge eingegangen.“ Das ist nicht pathetisch, sondern erz-wahr.
12.6.
Fast habe ich einen Hund, stattdessen aber kalte Füße bekommen. Die euphorischen Mitteilungen direkt nach der Hundezusage lasse ich nach meinem Versagen aber im Notizbuch stehen, um mich daran zu erinnern, was für ein Mensch ich bin.
13.6.
Beim Betreten des Proleten-Teils der Steyrer Landesausstellung ruft mir eine freundliche Person „Oh, Frau Präsident!“ zu.
Wieder eine melodramatische Geschichte über eine gescheiterte Flucht: Einst entwich eine Pfäuin aus Schloss Amras in den Garten der Erzählerin, wo der Vogel wochenlang nicht einzufangen war. Am Ostersonntag landete das Muttertier erstmals auf dem Fensterbrett und kam in Kurzem mit einem Ei nieder, das aufgrund der Neigung der Brutstätte sofort in den Abgrund rollte und wegen der unbarmherzigen Schwerkraft zuschanden ward. Daraufhin ließ sich Frau Pfau widerstandslos festnehmen.
15.6.
Die „Rampe“ ist in der Post, darin ein Text von mir und vorher eine Besprechung von Heidi Lexe, die alles besser gelesen und verstanden hat, als ich es geschrieben hatte. Das sollte ich wahrscheinlich nicht verraten.
18.6.
Klaus Nüchtern schreibt über Mandarinenten, die im März ja auch in unserem Pool einen für sie offenbar wenig befriedigenden Zwischenstopp eingelegt hatten, dies seien „gebietsfremde Tiere, die ihre Zierexistenz abgestreift haben.“ Das klingt ganz nach einem Auftrag für uns alle.
Stempen für den U-Bahn-Bau werden „abgeteufelt“.
V. hat neue Nachbarn in ihrem Einfamilienhauskonglomerat, einer davon ist von Hobbys wegen „Mr. Fetisch 2017“ und sehr nett. Als ich ihm ein Foto von mir als Präsidentin zeige, sieht er mich anerkennend an, als wäre ich auch ein wenig divers.
20.6.
Der Welser Vogelwart begeistert die Biertischgesellschaft im Schl8hof durch die Mitteilung, auf der Tauplitz nach „Zitronengirlitzen“ gesucht zu haben. Ich werde nicht googeln, ob er die gerade erfunden hat, weil ich will, dass es sie gibt.
22.6.
Man müsste Literaturkritiken im Stil von Tourenskitests oder Autorezensionen schreiben. „Ein Roman für jedes Terrain, aber eher aufstiegsorientiert.“ „Ein Text mit gutem Preis-Leistungsverhältnis, sehr alltagstauglich.“
Der Herr (oder die zuständige Sachbearbeiterin) schenke mir die Weisheit, Faulheit von Erschöpfung unterscheiden zu können.
24.6.
An schönen Tagen ist es fast schon stressig, alle Entspannungsplätze rund um das Haus auch zu nutzen. (Nachtrag zum vorigen Eintrag: Es wird sich weiterhin um „Faulheit“ handeln, aber mit einer paradoxalen Symptomatik).
Überfressen an schleißig zubereiteten Tiefkühlsemmelknödeln, die am 4.9.2016 abgelaufen sind. Auch das sollte ich wahrscheinlich nicht verraten, aber ich kann nicht nicht die Person sein, die ich bin.
Ein Nachbar wäscht noch schnell die Felgen seines Volvos, bevor der Regen einsetzt. Über Marchtrenk spannt sich dann ein barockes Wolkenfirmament (über Wels wird es Rokoko).
Franz Wenzl unterbricht mich: „Von Wilhering? Ich hab mir gedacht, du bist aus Schönering!“ Sehr viel mehr kann ich von meiner Karriere nicht mehr erwarten. Dann schenkt er uns die Schilderung, wie der Lelo und er auf dem Fußballplatz einmal extrem höflich gefragt worden seien, ob sie Lust hätten, an einem Raufhandel teilzunehmen. Dann verwandelt er sich in den Austrofred und macht uns mit der Lesung (u.a mit dem „Orakeltier Föttinger“) sehr glücklich, wie auch mit seiner Lösung für den Nahost-Konflikt: „De soin gscheid doa!“
25.6.
Noch während des Applauses nach dem ersten Punk-Moment meines Lebens (eine regionale Interpretation von Nirvanas „Where Did You Sleep Last Night“) schilt mich der Tontechniker live wegen das Fallenlassens des Mikrophons. Der Zauber meiner Präsidentinnen-Uniform und die Auratizität des Kunstgeschehens verlieren mit einem Schlag ihre Betörungskraft. Später wird Prof. Buttinger vom extrem unfreundlichen Wirten der Hofkneipe gefragt, ob er leicht nicht lesen könne. Sonst war's aber wieder sehr schön im Hof, und es braucht eh immer kleine Ereignisse, die einen auf dem Teppich halten. Lest's das hier!
27.6.
Soeben mein erstes eigenes Auto ausgesucht und selbst bezahlt, aber in Zeiten wie diesen sollte man mit sowas nicht angeben, und schon gar nicht sagen, dass es ein Beitrag zur Rettung des Klimas sei, dass der neue eh 31 PS weniger als der alte Ford hat.
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