Freitag, Januar 29, 2021

Reiseführer in meine Innere Mongolei

  Symbolbild "Reisen 2020/2021 - Disappointment Island"


Im siebten Lockdown im Jänner 2023 trat das Ereignis ein, vor dem mich meine Schwestern immer gewarnt hatten, und zwar nur oberflächlich scherzhaft, dass ich nämlich in ein schwarzes Loch stürze, sobald ich unser Elternhaus einmal vollends entrümpelt und zusammengeräumt hätte. Wir hatten gelacht, zu gewaltig schien die Aufgabe, eine reine Beschäftigungstherapie für mich, das geliebte, dumme Sorgenkind, die intellektuelle Hausdeppin, als hätte man mir erfolgreich eingeredet, das Schwarze Meer mit einem Kokslöffelchen leer zu schöpfen.

Als ich aber an diesem nasstrüben Wintertag durch die Räume ging, und mir kein einziges Zimmer einen kleinen Auftrag zuflüstern wollte, überkam mich die Einsicht, dass ich nun also wirklich den scheiß Roman schreiben müsse, wie ein Abschiebebefehl Nehammers. Ich hatte ALLES erledigt, die Doktorate in Meeresbiologie an der Uni Bratislava, den Master in akademischem Qualitätsmanagement an der FH Wiener Neustadt. Alle Klimmzüge waren gemacht, die Bücher nach dem Sternzeichen ihres Erscheinungsdatums sortiert (samt Aszendent). Alles Bisherige war ja nur eine einzige gigantische Ablenkleistung von der Literatur gewesen, mein Leben, ein einziger Verschubverband, stand auf Grund gelaufen vor mir.

Aus meiner Panik flüchtete ich in ein Mittagsschläfchen, das leider recht ausartete, weil es mir geträumte, dass ich im Keller noch eine heimliche Tür finde, hinter der sich Folgendes verbarg: das ganze Playmobil, das ich verloren glaubte + die Ritterburg, sämtliche Jahrgänge der Spazenpost und das Bernsteinzimmer. Zernepft und dehydriert erwachte ich, torkelte in mein altes Kinderzimmer, das jetzt ein Meditationsraum sein sollte. Ich sank auf die Andachtscouch und – tatsächlich! – ein Wunder! Zum ersten Mal in meinem Leben durfte ich erfahren, wie es sich anfühlt, sich zu konzentrieren!

Zuerst war es herrlich. Es fühlte sich an, als ob mein Körper durch die Augen sich langsam in sein Inneres stülpe, ich schien keine Oberfläche mehr zu haben. Diese Phase mutete wie das Eintreten über einen Windfang an, mein Blick fiel auf etwas unmodische Bilder von Katzen und Hunden: das Erdgeschoß meiner selbst. Auf den ersten Blick war alles an seinem Platz. Ich war aufgeräumt. Nicht besonders geschmackvoll eingerichtet, aber die Turnschuhe meiner Seele standen in Reih und Glied, in der Küche nur drei leere Bierflaschen, auf ihre Verpfändung wartend. Der Kühlschrank leer, bis auf ein halbes Glas Chilisauce, die andere Hälfte des Biertragerls – ja, das war ich! Den seltsamen Körperverlust auslotend strich ich durch die Räume, ich hatte sie noch nie gesehen, fühlte mich aber angeheimelt. Ich schaute ins Schlafzimmer, an der Wand ein sehr liebes Bildnis des Buttingers, und als kleines Zugeständnis an die Wildheit meiner Restsexualität, mit Tixo im Eck ein Zeitungsausschnitt von diesem süßen Landesrat, hihi, meditierte ich, wenn das der Buttinger wüsste! Insgesamt also hui, so eine Reise in sich selbst hinein, das erleichtert den Lockdown schon!

Nun wandte ich mich zum Arbeitszimmer – und es riss mich sehr, als ich erkannte, dass es ein exaktes Ebenbild meines real existierenden Büros war! Sogar der Computer lief, und auf dem geöffneten Dokument stand „Im siebten Lockdown im Jänner 2023 trat das Ereignis ein, vor dem mich meine Schwestern immer gewarnt hatten“! Whoa, Inception! Gibt es denn kein Entfliehen!? Ich versuchte, den Ausflug in meine Seelenlandschaft abzubrechen, jetzt ärgerte ich mich auch, dass da keine Berge drin standen, ich sah aus mir selbst heraus aus den gleichen blinden, ungeputzten Fenstern wie draußen. Ich rannte die Treppe hinab, auf der Suche nach der Haustür, landete aber im Keller. Da stand die modrige Freud-Gesamtausgabe, ungelesen, ach, was für ein überdeutliches Zeichen, billig! An den Wänden Plakate von Roxette, Kevin Costner und David Hasselhoff, es rumorte in meinem Unterleib huijuijui, das war ein anderes Begehren als das legitime nach meinem Buttinger, ich würde die Herren Costner und Hasselhoff an Ort und Stelle schänden, das fühlte ich jetzt! Ich taumelte gegen eine Tür, darin lagen die Leichen meiner politischen Gegner, sehrsehr peinlich, ich möchte nicht darüber reden, lauter Kinderabschieber und Pussygrabber, naja.

Wie eine Katze aus dem Ofenloch stob ich die Treppe empor, ins Erdgeschoß, noch weiter hinauf ins Juchée, uff! Da stand ein Vintage-Ohresessel, darein ich mich bettete. Hier waren nur Bücher, meine Augen wanderten zuerst rastlos, dann ratlos ihre Reihen ab. Auch hier eine Freud-Ausgabe, die mit historisch-kritischen Anmerkungen. Dazu ein Regal voll Geistlichem, ein Katechismus aus dem Jahr 1933, eine Ratzinger-Biographie, eine Luther-Inkunabel, Wow!, die nahm ich in die Hand, und es offenbarte sich mir Gottes Wort: Mose 20, 6-18 „Ein Mann, der mit einer Frau während ihrer Regel schläft und ihre Scham entblößt, hat ihre Blutquelle aufgedeckt, und sie hat ihre Blutquelle entblößt; daher sollen beide aus ihrem Volk ausgemerzt werden.“ Oh Gott, lauter Altes-Weißes-Männerzeug, die einzige Frau war ich in meinem Über-Ich, und ein Porträt meiner Oma, darauf eine Sprechblase „Das Geschlechtliche hebt's euch auf bis ganz z'letzt!“ Daneben die Bildergalerie sämtlicher Bundespräsidenten, Kanzler und Landeshauptmänner aus der Legislaturperiode meines Lebens, sie sahen so begütigend tadelnd auf mich herab wie während der 100.000 Jahre meiner Schulzeit.

Ich schrie! Hooooooaaaarrrrrrr! Aaaaaargh! Wie im Traum stürzte ich aus meiner Oberstube, ins Erdgeschoß, und von da quoll ich mir endlich wieder selbst aus Stirn und Augen, zurück in dieses seltsame Gleichgewicht zwischen Innen- und Außengefühl, das wir im Idealfall gar nicht spüren, und das ich in meinem Leben nie wieder verlieren möchte. Den Lockdown saß ich auf einer Backe ab, den Roman hab ich noch einmal von durchkorrigiert, weil ich mittlerweile erkannt habe, dass nur im Windschatten seines Aufschubs mein Leben halbwegs gelingen kann.


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