Da sich das Ende des Zweiten Weltkriegs im Westen Europas zum 75. mal jährt und in den OÖN der "Stunde null" gedacht wird, budeln sich auch die organisierten Sudetenvertreter wieder auf. Ich denke, das ist ein passender Anlass dafür, ein Kapitel aus "In der Heimat der Fußkranken" hier hereinzukopieren.
Sudernde Sudeten
Viele
ältere Mühlviertler sind auf ihre Nachbarn im Norden gar nicht gut
zu sprechen. »Die Tschechen tun ja grad so, als ob ihnen Gott dieses
Land geschenkt hätte!«, ereiferte sich jüngst ein älterer
Arnreiter, der als Sudetendeutscher nach 1945 vertrieben worden war.
Als hätte Gott den Sudeten oder irgendjemand anderem Wald und Wiesen
geschenkt. Als hätte Hitler nicht Krumau und Kaplitz 1939 gewaltsam
an „Oberdonau“ angegliedert.
Die
Sudeten – eigentlich der Name jenes Gebirgszuges, der Deutschland,
Tschechien und Polen verbindet – haben aus ihrer Sicht Grund, mit
den Tschechen über Kreuz zu sein. Die ersten von ihnen hatten ab dem
12. Jahrhundert die Grenzregionen Böhmen und Mährens
kolonialisiert. Pest und Kriege entvölkerten das Land und lockten
weitere Siedler an. Unter den Habsburgern gab bei der Volkszählung
von 1910 ein Drittel der böhmischen Bevölkerung Deutsch als
Umgangssprache an (2,2 von insgesamt 6,6 Millionen Menschen).
Am
1. Oktober 1938 wurden die Sudetengebiete mit ihren insgesamt 2,9
Millionen deutschsprachigen und 700.000 tschechischsprachigen
Bewohnern „heim ins Reich“ geholt. Heute beraten Historikerinnen
darüber, ob nicht genau hier ein guter Zeitpunkt für den Rest
Europas gewesen wäre, Hitler militärisch auf die Finger zu klopfen,
zumal die mit dem Sudetenland annektierten Grenzbefestigungen später
von der Wehrmacht als uneinnehmbar erachtet wurden und die
tschechoslowakische Armee zu diesem Zeitpunkt eine der
bestausgerüsteten Mitteleuropas war.
Nach
dem Ende der NS-Herrschaft kamen die von der tschechoslowakischen
Exilregierung in London ausgearbeiteten 143 „Dekrete des
Präsidenten der Republik“ zum Tragen, nach denen 2,9 Millionen
Menschen als „staatlich unzuverlässig“, ergo Staatsfeinde
eingestuft wurden. In Österreich, Deutschland und Ungarn werden sie
gerne „Beneš-Dekrete“ genannt, vielleicht weil die Reduzierung
auf eine Person noch dämonischer wirkt. Die Dekrete betrafen auch
die 2000 bis 3000 überlebenden Juden (von ursprünglich 40.000), die
sich bei der Volkszählung als ›deutsch‹ deklariert hatten. Ihr
zuvor „arisiertes“ Vermögen wurde nach dem Krieg als deutscher
Besitz konfisziert. Trotz eines späteren Erlasses zugunsten der
solcherart erneut Beraubten sahen diese ihren Besitz nie wieder –
die kommunistische Partei verfolgte bekanntlich die Strategie der
Verstaatlichung privaten Eigentums.
Die
Tschechen waren jedenfalls durchaus gründlich bei der
revanchistischen und von den Alliierten geduldeten „Ausbürgerung“,
obwohl die Dekrete an sich eine derart systematische Vertreibung
nicht rechtfertigten. Nach einigen öffentlichen Ansprachen von
Präsident Edvard Beneš kam es im Mai 1945 zu „wilden
Vertreibungen“, sprich: brutalen Massakern. Die Zahlen der
Todesopfer schwanken zwischen 18.816 und 270.000.
Es
verschwanden nicht nur die Menschen, sondern auch deren Häuser.
Ganze Dörfer wurden bis auf den letzten Stein abgetragen. Vor
einigen Jahren besuchte ich das malerische Ktiš nahe Prachatice.
Dort liegen auf dem Friedhof der 1310 erbauten Kirche noch die Ahnen
der Sudeten. Ansonsten ist außerhalb des Dorfes kein Stein ihrer
Höfe mehr zu sehen; alte Fotos wirken angesichts der heutigen Leere
wie eine Fata Morgana.
In
das entvölkerte Sudetenland zogen nach dem Krieg Tschechinnen aus
dem Landesinneren und dem Ausland. Viele der Vertriebenen flüchteten
nach Oberösterreich. Etliche meiner Freunde haben sudetendeutsche
Großeltern. Laut Erzählungen waren die Großeltern naturgemäß
traumatisiert durch das erlittene Unrecht, gleichzeitig aber froh,
nun auf der „richtigen“ Seite des Eisernen Vorhangs zu leben.
Ihren Enkeln haben sie keine Ressentiments vererbt. Ganz im Gegenteil
zu den organisierten Sudeten.
Die
Vertriebenenorganisationen der Sudetendeutschen Landsmannschaften
sind ein Erbe, das aus der NS-Zeit über uns gekommen ist. Nicht
umsonst wird bei ihnen vom Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes (DÖW) eine Nähe zum
Rechtsextremismus erkannt; politisch sind sie wie alle anderen
organisierten vertriebenen „Volksdeutschen“ fest in der Hand des
Dritten Lagers – auch in Oberösterreich. „Sie leben in der
Vorstellung, sie seien die vergessenen Opfer, dabei wurde besonders
auch in Oberösterreich jahrzehntelang ausschließlich über sie
geredet, wenn es um die Opfer des Krieges ging, und nicht über
'Zigeuner' oder Juden“, sagt Josef Goldberger vom
oberösterreichischen Landesarchiv. „Die Vorgeschichte der
Vertreibungen und Übergriffe – die NS-Verbrechen in den jeweiligen
Ländern und die Beteiligung von Volksdeutschen daran – wird
weitestgehend ausgeblendet“, heißt es auch in der Stellungnahme
des DÖW aus dem Jahr 2004.
Vor
einigen Jahren plante der Nationalratsabgeordnete Norbert Kapeller,
Wehr- und Vertriebenensprecher der ÖVP, ein Museum der
deutsch-tschechischen Völkerverständigung in seinem Bauernhof in
Leopoldschlag. Das Land Oberösterreich hatte dies zunächst fördern
wollen. Im Jahr 2010 zog es aber auf dringliches Anraten
verschiedenster Institutionen die Zusage aus politischen Gründen“
zurück, wie Kapeller sagt. Expertinnen weisen darauf hin, dass er
als Vertriebenensprecher im Lauf der Jahre mehrmals durch
diplomatische Grobheiten die österreichisch-tschechische
Verständigung gefährdet habe. Im März 2011 trat Kapeller von all
seinen politischen Ämtern zurück, nachdem sein Auto in der
Kurzparkzone vor dem Linzer Bahnhof abgestellt worden war – mit dem
Behindertenausweis seines vor zehn Jahren verstorbenen
Schwiegervaters hinter der Windschutzscheibe.
Eine Episode zum
Abschluss. Ein Freund aus Wels ist Kind von vertriebenen Banatlern,
die seit Ende des 17. Jahrhunderts von den Habsburgern in den nach
den Türkenkriegen verwüsteten, entvölkerten Gebieten angesiedelt
worden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie brutal aus ihrer
Heimat vertrieben. Viele fanden Aufnahme rund um Wels, insbesondere
in Gunskirchen oder Marchtrenk. Ihnen verdankt die Gegend
kulinarische Errungenschaften wie Tomaten, Paprika und Knoblauch. In
den Gärten der Exilantinnen soll es keinen Flecken gegeben haben,
der nicht der Ernährung diente. Mit den alten Menschen stirbt
allmählich das ganz spezielle Banater Deutsch aus. Mein Freund
erzählt, dass es – nach Jahrzehnten unauffälligen Zusammenlebens
– sofort nach dem Aufstieg Jörg Haiders auf dem Welser Wochenmarkt
zu sehr hässlichen Szenen kam. Etliche heimatbesoffene Männer
hörten Banatler sprechen und pöbelten die vermeintlichen Ausländer
an, sie mögen sich aus Österreich schleichen.
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