Samstag, Mai 18, 2019

Im Westen – die neue Seidenstraße

[Der Erzähler arbeitet als Landvermesser für die neue Seidenstraßeneisenbahn, die am Lauf der Donau entlang an der Traun abbiegt und von dort ins Gebirge und die Adira führen soll. Es droht Gefahr von den Eingeborenen-Stämmen der Awaren, Slawen und Bajuwaren, die in diesem Gebiet leben und von einer Bahn nichts wissen wollen. Der junge Held ist ein Greenhorn, er freundet sich mit Deng Xiao an, dem Leiter des Security-Teams und erfahrener Westmann. Die beiden sind an einem Sonntag früh morgens auf eine Gams und steigen jetzt wieder aus dem Höllengebirge ab:]

Wir hatten uns dem Lager angenähert, als grässliches Geschrei die Gebirgsruhe durchschnitt. Den Augen bot sich Entsetzliches – rings auf den Bäumen saßen die Arbeiter und brüllten um Hilfe. Vor mir stand der Braunbär und wühlte im Unterleib des Kochs Long, der am untersten Ast einer Buche hing. Ich hob – ohne nachzudenken – einen Stein vom Boden. Der Petz hielt, am Kopfe getroffen, sogleich in seinem Wüten inne und drehte sich zu mir um, der ich ihn mit einem Schuss ins rechte Auge empfing. Der Bär sackte auf die Vorderläufe, dann tappte er stracks auf mich zu. Ich zog mein Klappmesser, sprang zwischen die Tatzen und stach zu. Viermal in das Herz hinein. Der Bär gab nach und sank in seinen Tod. Ich ging zum Stamm, an den sich Long klammerte. „Lasst los, Mann, ich helfe euch herunter!“ Der Anblick war wüst, die Eingeweide hingen ihm aus dem Bauch. Er war tot. Die Arbeiter wollten erst von den Bäumen steigen, nachdem ich ihnen die Leblosigkeit des Tieres bewiesen hatte.

Deng Xiao beugte sich über den Leichnam. „Ó! Ein Braunbär! Muss von Karantanien her kommen.“ Die Arbeiter, die gerade noch um ihr Leben gefürchtet hatten, wollten sich nun gierig daran machen, dem Bären die Krallen und den Penis abzuschneiden, um sie als Heilmittel weiterzuverkaufen. „Der Bär ist mein!“ rief ich, aber sie wichen nur kurz zurück. „Noch ein Schritt weiter und ich schlage jeden ohnmächtig, der --“

In diesem Augenblick tönte eine laute Stimme. „Meine Herren, seid ihr toll? Was für einen guten Grund könnte es geben, dass Landsleute einander den Hals brechen?“ Da trat ein buckliges Männlein hinter einem Baum hervor. Er war so hellhäutig, dass man ihn für einen Europäer halten musste. Der Kleine wandte sich an mich. „Habt Ihr Kraft in den Knochen, junger Herr!“ Er kniete sich zum Bären. „Ihr seid uns zuvorgekommen.“ Er richtete sich wieder auf. „Ihr seid Landvermesser?“ Ich nickte, ein Schatten fiel über sein Gesicht. „Der Boden gehört dem Stamm der Awaren vom Salzberg.“ „Was geht euch das an?“, brüllte der besoffene Vorarbeiter Shǔ. „Ich gehöre zu den Awaren“, antwortete der Bucklige ruhig. „Ah!“ krähte Shǔ in spöttischer Bewunderung, „Huángsè-fùqīn, der Schulmeister der Langnasen!“

Der Kleine rief ein europäisches Wort in den Wald, das ich damals noch nicht verstand, worauf zwei außerordentlich interessante Gestalten auf die Lichtung traten. Es waren offensichtlich Vater und Sohn, die da würdevoll auf uns zukamen. Sie trugen ihr reiches blondes Haar wie einen helmartigen Schopf, ihre Augen strahlten blau. Sie waren in die grünen Jagdröcke der Gegend gekleidet. An den Beinen trugen sie wollene Socken, darüber fein gearbeitete und schön bestickte kurze Hosen aus Gamsleder. Der Jüngere machte einen tiefen Eindruck auf mich. „Das sind meine Freunde“, sagte Huángsè und wies auf den Älteren. „Das ist Ingenieur Tschurner, Bürgermeister der Salzberg-Awaren. Und hier steht sein Sohn Winifred, der trotz seiner Jugend schon kühne Taten verrichtet hat.“

Winifred betastete die Wundmale. „Wer hat diesen Bären mit dem Klappmesser angegriffen?“ Er sprach reines Mandarin. „Ich“, war meine Antwort. „Das junge Gelbgesicht hat großen Mut bewiesen!“ Der Bürgermeister wandte sich an Shǔ. „Mein gelber Bruder mag mir einige Fragen beantworten. Hat er im Osten ein Haus, und ein Stück Land dabei?“

Shǔ unterdrückte seinen Hohn halbherzig. „Ja.“

Wenn nun der Nachbar einen Weg durch diesen Besitz meines gelben Bruders bauen wollte, würde dies mein Bruder dulden?“

Nein.“

Die Länder jenseits des Himalayas und des Indischen Ozeans gehören den Chinesen. Was würden sie dazu sagen, wenn die Europäer kämen und dort Eisenbahnen bauen wollten?“

Sie würden sie fortjagen.“

Mein Bruder hat die Wahrheit gesprochen. Die Gelben kommen in dieses Land, schießen unsere Gämsen, rauben unsere Bodenschätze und Arbeitsplätze. Was werden wir dazu sagen?“

Shǔ schwieg.

Haben wir etwa weniger Recht als ihr?“ fuhr Ingenieur Tschurner fort. „Ihr nennt euch Kommunisten und sagt, dass alle gleich sind!“

Es ist notwendig für das Wachstum und den Standort“, sagte Shǔ kleinlaut.

Da wurde der Häuptling unwirsch. „Es ist nicht notwendig, dass ferner noch Reden gehalten werden. Ich will, dass ihr heute noch fortgeht.“ Er nickte seinen Begleitern zu, die drei wandten sich zum Gehen. Da griff Shǔ mit einer Geschwindigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, nach der Pistole. Ich stürzte auf ihn zu, doch schon löste sich ein Schuss. Huángsè sprang beherzt vor seinen Schützling Winifred, dem die Kugel gegolten hatte. Sie trat dicht neben dem Herz des Alten ein, er stürzte wie ein gefällter Baum. Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens erscholl. Die Weißen knieten nieder, der Jüngere hob den Kopf des Getroffenen auf seinen Schoß. Blut quoll hervor. „Winifred, mei Bua!“ flüsterte er in der europäischen Mundart. Da wandte er sich zu mir, sprach mit dem letzten Atemzug auf Mandarin: „Bleiben Sie ihm treu! Führen Sie mein Werk fort... die Weißen brauchen Ihre Hilfe!“ Ich sagte es ihm ergriffen zu. Er hauchte sein Leben aus.

Winifred und sein Vater hoben stumm den Leichnam auf. „Ich will euer Freund sein! Ich gehe mit euch!“ drängte es über meine Lippen.

Da spuckte mir Tschurner ins Gesicht. „Räudiger Hund! Länderdieb!“

Die Weißen hoben ihren toten Lehrer auf ihren Traktor, banden ihn fest und fuhren von dannen. Sie hatten keinen einzigen Blick mehr für uns.


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