Phantomereignisse
im Oktober 2022
1.10.
Eine
Frau kämmt in der Westbahn ächzend eine Perücke.
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Bauern,
Lehrer, Kleinkinder – die drei Standesvertretungen des Jammerns.
***
Beschreibung
des idealen (Kiff-)Zustandes in der heute-show: „euphorische
Gelassenheit“.
2.10.
Ilse
Kilic spricht bei der Lesung im Flößerhaus über die Serien, die
sie geschaut hat, etwa „Flipper", "ein Delfin von beängstigender
moralischer Integrität“. Einer der Hauptdarsteller habe übrigens
Selbstmord begangen, indem er willentlich zu atmen aufhörte. Neben
ihrem Lebensmenschen sagt sie: „Ich bin Liebesgegnerin!“ Ich
denke zu wissen, was sie meint (nichts schlimmer als Liebesszenen
mittlerweile, man wird fast wieder zum Kind: „Iiiiii!“).
Fritz
Widhalm: „Jede Revolution sollte sich zumindest bemühen, nett zu
sein.“ Und: „Allerdings steckt das Wort frei auch im Wort
Hofreitschule.“
5.10.
Influencer
sind die Orakeltiere unserer Zeit. Zum Glück sprechen sie zu uns,
sonst müsste man in ihren Eingeweiden lesen.
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Gute Sätze
gestern beim Roboter-Kepler-Salon mit Martina Mara. KI-Kurator René
Monet: „Ich kann den Tod in den Texten nicht brauchen, sonst ist es
nach einer halben Seite aus.“
Beim
Nachdenken über Arbeitsbereiche, die am ehesten von Robotern
übernommen werden sollten, einigen wir uns auf das Umfeld von
Wolfgang Fellner; sie können ja künstliche Brüste haben, damit er
sie statt den jungen Frauen belästigen kann. Zufällig ist Mara am
Tag vor unserer Veranstaltung im „Österreich“ als „Psychologin
für Roboter“ bezeichnet worden (mit ihr geredet hat niemand), es
ging um Sex mit Maschinen. Natürlich illustriert mit einem Androiden
(Gynoidin?), die so aussieht, als sei sie schon die persönliche
Assistenz für den WoFe.
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An frühen
Abenden komme ich kaum durch die Stadt, der arme Riess ist schon
leicht enerviert, weil ich mit allen schnattere. Auch dieses Erbe des
Vaters habe ich angetreten.
6.10.
Marlene
Engelhorn ist auf eine enorm gute Art schrullig, aber das kann auch
nur der Effekt des Klassenunterschieds sein. Immerhin empfinde ich
einmal keine Scham, Primararztenstochter zu sein. Engelhorn arbeitet
hart an ihrer relativen Verarmung und weiß darüber viel Kluges zu
berichten. Sie sagt, dass Sozialmissbrauch den Staat aktuell streng
geschätzt 20 Millionen koste, nach konservativer Schätzung die
Steuerflucht jedoch 734 Millionen. Frage aus dem Publikum: „Warum
haben wir das türkische System? Oben sind die Reichen, in der Mitte
die Migranten, unten wir Österreicher. Ich bin keine
Ausländerfeindin!“ Ach, Wels.
7.10.
Am Fuß des
Warschenecks. Ein Tag im Märchen- und Lärchenwald. Goldene Stunden.
Der Hund rennt viermal den Gämsen nach.
9.10.
Ich bleibe
souverän Bundespräsidentin, aber anderes stand gar nicht zur Wahl.
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Bei einer Taufe frage ich die neben mir sitzende Freundin, ob sie
„denn noch dabei sei“. Im Gegenteil sagt sie, ihre Eltern hatten
sie gezwungen, zu den roten Falken zu gehen. In die Kirche sei sie
nur einmal zum Beten gegangen, um ihr Gewissen zu erleichtern, weil
sie unabsichtlich ihren Hamster ertränkt hatte.
Später, beim Wirten, einer junger Mann: „Dominika, bist du leicht a Feministin?“
„Nein, ich
glaube an das Matriarchat.“
„Ah, also
mit Männerquote.“
„Ca. 30
Prozent, ja.“
„Aha.“
10.10.
Ich besitze
drei Che-Guevara-T-Shirts. #stiller Aufmupf
***
René hat für
Raphi Edelbauer ein Self-Check-In-Hotel gebucht. „Das ist
unbetreutes Wohnen.“
11.10.
Kepler-Salon
mit Obgenannter, denn ich mach' mir meine Fortbildung jetzt einfach selbst.
Sie erzählt viel Schönes, etwa über ihre Leidenschaft als "Glitch-Jägerin" und den "Corrupted Blood Incident" bei World-of-Warcraft, an dem später
EpidemologInnen den Verlauf einer Pandemie studiert haben.
Nach der
Veranstaltung erzählt ein Gast, dass er in Deutschland einmal nach
seinem „Gödtascherl“ gesucht, und erst an der zunehmenden
Verwirrung der umstehenden Piefkes erkannt habe, dass die „Götterschall“
verstanden hatten.
Aftershow im DH5, wo wir Raphi mit unserer Zuneigung (s. Abb.) zu diesem Ort infizieren.
14.10.
Melonenerbin
***
Anna
Weidenholzer erzählt mir so viele schöne Sachen, aber ich nehme sie
nicht mit, es ist wie das Silberbesteck bei einer feinen Einladung.
17.10.
Auf dem
Mölblinggrat. Ein Tag, an dem man zugleich manisch dahinwandern und
überall stundenlang schauend rasten möchte.
Beim Abstieg
treffe ich die beiden Männer wieder, die ich in der Früh überholt
habe. Sie erzählen mir, dass sie miteinander wandern gingen, seit
ihnen die Frauen gestorben sind. Beide an Brustkrebs, beide recht
früh. Und beide haben es den Männern erst viel zu spät gesagt.
18.10.
Stifterhaus,
X-Blatt-Präsentation. Mitterndorfer und Einzinger verwenden beide
die Rückseiten von Zetteln und loben einander dafür zu recht.
Einzinger erntet in der Schule und im Verlag. Er liest dann von
Ratten, die in Panik auf Brillenputztücher pissen. Crazy, crazy
stuff – aber die einzige experimentelle Prosa, die ich wirklich
mag (=checke).
***
Süße Tränen
beim Hören der ersten Aufnahmen des pataphysischen Orchesters
„Klangerotische Ponygarde“. Es ist betörend schön und
entsetzlich schlecht. Sogar mein Magen knurrt melodisch mit. Mein
Beitrag waren einzelne Töne, die ich Clemens Wenger per
Handy-Diktaphon geschickt habe. Er möge daraus mein Playback
basteln, weil ich am Aufführungsabend ganz bestimmt ohnmächtig
werde vor Glück, Lachen und Atemnot.
Symbolbild "Freude durch schreckliche Klänge"
19.10.
Ich weiß
jetzt, warum ich mich darauf gefreut habe, Barbi Marković
endlich persönlich kennen zu lernen. Beim üblichen „Schlimmste
Lesung“-Battle nimmt sie mich sehr für sich ein, als sie eine von
der EU gesponserte Busreise von Finnland bis Albanien berichtet, die
seitens der Bevölkerung auf null Interesse stieß, durchgehend. An
jedem Stopp musste langmächtig die Bühne aufgebaut werden, auf der
die zehn AutorInnen dann vor einem Gespensterpublikum zu lesen hatte.
Weil die Route nur mit Google Maps, nicht mit Verstand gesucht wurde,
mussten sie dann nach der Lesungsschmach gleich wieder in den Bus,
der sie über Nacht irgendwo anders hinbrachte. Das Taggeld blieb vom
sauteuren Norden bis zum günstigen Süden immer gleich (niedrig),
sodass Barbi, die nur im Norden unterwegs war, oft Hunger hatte. Am
Ende sollten sie in Helsinki(?) vor zero Menschen im örtlichen
Goethe-Institut lesen.
Das Publikum
im Hof liebt ihre Tirade in der „Verschissenen Zeit“ auch sehr.
Was im Serbischen nicht alles gefickt werden möge! Deine
Strimversorgung, dein Weizen, dein Löwenzahn, dein Vater, du selbst
zurück in deinen Vaterschwanz. Wir fragen sie, ob „je bempti bog“
sehr schlimm sei. Ach nein, das sage man zu Kleinkindern. „Stimmt,
das ist kein Fluch“, stellt der Tontechniker Manuel fest, „wenn
einer weiß, wie's gemacht wird, dann Gott!“
Ein Satz, den
man sich auf einen Polster oder auf die Haut sticken lassen kann:
„Sei froh, dass es dich gibt, reiß dich zusammen!“
20.10. Wien
Wenn ich
keine Scham vor Lügen hätte, könnte ich jetzt meinen ersten
musikalischen Auftritt als „ausverkaufte Premiere mit dem Orchester
im Volkstheater“ in den CV schreiben, aber ich werde es wohl nicht
verschweigen können, dass ich ausschließlich physisch präsent war.
Ich selbst verborgen hinter Lukas Meschiks Cello und Jakob Kaners
Kontrabass, mein Gepfeife verborgen unter Theresa Dinkhausers
Klarinette. Nur ein einziges Mal ließ ich mich zu einem kleinen Tröt
in einer Pause hinreißen, nur um selbst zu hören, dass es mich
gibt. Nur diesen Pfiff und meinen linken Schuh konnte das Publikum
wahrnehmen.
Silvia
behauptet, sie habe meinen Existenzbeweis gehört. Sie und Cordi
sitzen tapfer in der Roten Bar wie zwei Mütter vor ihren
wahnsinnigen Kindern beim Krippenspiel.
Es war
wunderschön. Das eigene Nichtkönnen geht im gemeinsamen Bemühen
auf: „Von der Schönheit leidenschaftlichen Versuchens“, schreibt
der Standard-Redakteur, dessen Namen ich mir zum Dank eigentlich
hatte merken wollen. Am schönsten vielleicht, wie sich die dritte
Geigerin ganz kurz die Tränen aus den Augen streichen muss. Oder
Willi Landls Posting am nächsten Tag: „Mein erstes Dirigat!“
Auch merkenswert: Die bizarren Posituren des Engels im Sauna-Tuch,
der eine ganz eigene Agenda an diesem Abend verfolgt hat.
25.10.
Wie schaffen
es die Menschen, trotz des immer erbärmlicheren Modeangebots
halbwegs unscheiße auszusehen?! Wenn das so weitergeht mit meiner
Konsumhemmung, schau ich bald aus wie Tom Hanks in Cast Away.
Dann kleide ich mich gleich in Fleckerlteppiche.
***
Ad
selbstgemachte Fortbildung: Jörg Piringer im Kepler-Salon.
Großartige Datenpoesie! Und doch noch einer, der was Experimentelles
macht, das mich entflammt. Wir halten ein Plädoyer fürs Stricken,
im Sinne des Spiels in einem begrenzten Regelsystem (vgl. Schach und
Sprache). Wieder eine Moderation, bei der die Gäste durch gleißende
Intelligenz auffielen. Buttinger: „Aber dafür, dass du überhaupt
keine Ahnung von der Materie hast, war's sehr gut!“
26.10.
Und noch eine
erhebende Begegnung mit der Kunst: Austrofred am „Kultur Hotspot
Raiffeisen“! Der Konzertbesuch artet fast ins Leischen aus. Wir wissen jetzt jedenfalls, wie Kurt Razelli unter der Arni-Maske
aussieht. Und wir hoffen
sehr, dass das schöne Liedgut der beiden auch außerhalb von Oberösterreich
funktioniert! Wäre ich der LH, ich würde schon die
goldene Landeskulturmedaille in der St. Florianer Glockenmanufaktur gießen
lassen.
27.10.
Hell
auflodernde Empörung, als R. der Nachbarin erzählt, dass man
unsere Häuser im Google Street View sehen kann (bei mir vor allem
die wild wuchernde Hecke). Er macht es auch nicht besser, als er den Sinn der Sache so erklärt: „Damit die Einbrecher auch Home
Office machen können.“ Mit all der ihr möglichen Schnelligkeit
stapft sie ins Haus. Sekunden später stürzt der Gatte heraus. „De
nehmen des fias Militär stott de Koartn, des kenn i nu vom
Bundesheer!“
***
Stolz und
Scham halten sich die Waage, als ich die leicht angefaulten, nach der
Ernte liegen gebliebenen Zucchini in Gstocket doch nicht aufhebe und
verkoche.
28.10.
Der Titel der Lesebühnen-Nachschau mit Ilse Kilic lautet "Glück
ist: ein Zander, ein Arsch, ein Schwein, Geheimwissen von Lady Diana
und ein Kurt-Cobain-Poster in der Garage", und so war es auch.
30.10.
Auf dem Weg
zum Ostrawitz. Wir reden über unsere Wanderungen im Stodertal.
„Warum hast du mich da nicht mitgenommen?!“ „Weil... äh,
da haben wir uns doch noch gar nicht gekannt!“ „DAS ist eine
schlechte Ausrede!“
In der
Polsterstube nehmen sie mir unter dem Gespött des
Stammtischpatriarchats die eigenäugig erspähte und mit Mühe ins
Tal geschleppte Geweihstange wieder ab. Wenigstens bedankt sich die
Wirtin im Namen der Jägerschaft, da das Geweih von einem noch nicht
geschossenen Hirschen stamme. Am selben Tag wirft der Buttinger vier
Forellen zurück in die Traun. Von Catch & Release haben nur
erwachsene Gemüter was.
31.10.
Wieder einmal
diese positive Erschütterung, wer aller am Imposter-Syndrom leidet. Eine Freundin, die zu recht eine bedeutende Funktion im Justizsystem hat, sorgt sich, dass man ihr draufkommt, dass sie
alles so irgendwie hinkriege. Sie bewundert mich und Coala in skurriler Aufrichtigkeit, „weil
ihr so viel zum Zeitunglesen kommt!“ Wir berichten
einander von den kleineren Belästigungen in unseren Frauenleben und
leiten die Wut darüber beim Knacken der Nüsse ab. #sublimation