Phantomereignisse im November 2021
2.11.
Viel tut sich nicht, außer dass es jetzt ein Wesen gibt, das durch sein Verhalten mein ganzes Sein kommentiert. Das Trällern, das bislang noch an kein anderes Trommelfell als das meine gedrungen ist, erschreckt das Tier. Ö1 geht grundsätzlich, vor allem, wenn Günter Kaindlstorfer moderiert, evangelikale Hassprediger lehnt der Hund jedoch schroff ab (not at all listening to that master's voice).
Die Signation „Vom Leben der Natur“ taugt ihr. Darin geht es diese Woche um ein Tier namens „Ehrenmaus“, wahrscheinlich schreibt man es aber mit Ä (falls ich einmal ein Beispiel für die diffèrance brauche).
3.11.
Erwin Einzingers lautere, kindliche Freude über den eigenen Text, den er gerade vorliest, wärmt den ganzen Raum. „Die Eule und das Kätzchen: Beide pinkeln also gern ins Gebüsch … I find des guat!“ frohlockt er, und bei jedem anderen wäre das mindestens kokett, aber wir freuen uns alle mit ihm. (Zweitbester Satz.)
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Eine liebe Kollegin erzählt mir, dass ihr Hund in ihrem Haar nächtigt, später liest sie den schönsten Satz des Abends vor: „In ihrem zerwanderten Körper schläft das Herz einer Bärin.“ Der drittbeste kommt von Richard Wall: „Der Wald ist alles, was der Fall ist.“
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Nach der Sitzung gibt es recht unernst gemeinte Beschwerden, dass dabei Bier getrunken werde. „Das ist halt jetzt der neue Stil“, sagt eine Frau, die ich sein könnte.
5.11.
Über die Regressionsdisko habe ich an anderer Stelle literarisch Rechenschaft abgeliefert (hier bitte). Wiederholen möchte ich nur, dass es herzerfüllend schön war. Und diesen Gesprächsschnipsel zum Thema „Crescendo der Überforderungen“:
Meindl d.Ä.: Ich hab jetzt einen Hund, daran muss ich mich erst gewöhnen, dass da ein Wesen immer da ist und mich braucht.
L.: Wie muss das erst mit einem Kind sein!
Hirschl: Mich setzen lebende Pflanzen schon unter Druck.
Meindl d.J.: Mich stressen die Bedürfnisse meines Autos.
6.11.
Hohe Durchschimpfungsbereitschaft
7.11.
Dieses große Glück beim Finden verlassener Almen.
8.11.
Das Nachruf-Wichteln – eines der besten Projekte 2021. Ich muss es Coala schnell stehlen und marktreif machen. Die Idee geht so, dass man z.B. zu Weihnachten einen Namen aus Freundeskreis und Familie zieht und diesem Menschen eine einfühlsame Totenrede zu Lebzeiten verfassen + vortragen muss. So spüren wir wieder besser, dass wir eh alle unser aller Herzikratzis und Fleischhackerhundsis sind, alle hochbegabt und alle ganz etwas Besonderes!
11.11.
Clemens Setz' Rede zum Büchnerpreis ist erschütternd gut. Die liebevoll trainierten Pferde, die sich Menschen verbal(!) verständlich machen konnten, enden in der Knochenmühle des Ersten Weltkriegs, wo "die Pferde jetzt durch die Menschen in Unglück gekommen sind" (Kraus). Setz sagt: „Den Zählpferden erklären, was Krieg ist. Das ist für mich das geheime Herz aller Erzählkunst.“ Von diesem Wissen kann man sich nicht mehr erholen, und das ist richtig so.
12.11.
Eine hörbar junge Frau ruft mich im Auftrag des United States Holocaust Memorial Museum in Washington an, ob ich in der Suche nach Hartheim-Zeitzeuginnen helfen könne. Es sei ihr sehr peinlich, aber sie habe außer meiner Nummer nur noch die Information, dass ich mit „Minki“ anzusprechen sei.
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Mir träumte wieder einmal von einer miserabel vorbereiteten Lesebühne, dieses Mal zum Thema „Berg“, leider auch irgendwo auf einem Berg. Großspurig führe ich das Ensemble dorthin, zu Gast ist Martin Fritz, doch wir verplaudern uns und ich habe auch nie wirklich gewusst, auf welcher Alm wir lesen sollen. Es wird nichts.
13.11.
Der Zugbegleiter raunt mir wegen meiner noch nicht gültigen Vorteilscard zu, ich sei ein „Schlingel“.
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Auf einer Geburtstagsfeier lernen wir den enorm sympathischen ZiB-Moderator Jürgen Pettinger kennen. Coala verwickelt ihn ohne Umschweife in abstruse Romanprojekte, beide kommen überein, dass ich die dann eh „nua mehr owaschreim“ müsse. Eines davon: „Schweine sterben leise im Schnee“, irgendwas über Lawinenexperimente in Tirol.
14.11.
Coala: „Ich möchte eine Person öffentlichen Desinteresses sein.“
15.11.
Eine Auswahl an Likören ins GAV-Büro getragen, im Sinne des „neuen Stils“.
16.11.
Der ORF ruft an, weil ihnen noch eine Frau fehlt, die über OÖ mault. Es wird explizit gewünscht, im Frack zu erscheinen. Bald stellt sich heraus, dass es in Wahrheit nur um den Hund geht, der die Quote in die Höhe treiben soll! Selbstverständlich sage ich zu, das Tier soll an meiner statt erfolgreich werden.
18.11.
Beim Sichten des Erbes taucht die Rechnung für meine Taufe wieder auf. 14 Halbe Bier, „4 Bomben“, aber nur vier Tassen Kaffee. Kurios – es wurde mehr gegessen als getrunken! So war das nach dem Krieg, da haben alle noch ein bisschen gehungert.
19.11.
Es tut ein wenig weh, beim Notar den verbleibenden persönlichen Besitz des Vaters als „alt, abgetragen und wertlos“ einschätzen zu lassen. Deswegen trage ich jetzt seine Hosen und Winterjacken auf. Das wird der erste Winter, in dem ich nicht friere.
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MÜNCHEN! Konkret Trudering – der unexotischste Ort der Welt.
Birgit hat mir eine Karte für das neue Hader-Programm geschenkt. In Österreich bestand keine Chance, also sind wir nun im Zirkus Krone, unter tausenden anderen, die alle den Schmäh am Anfang der zweiten Hälfte checken, nur wir nicht, weil wir uns vertrödelt haben. „Hader on Ice“ ist natürlich großartig, man kriegt nur einen schiachen Neid auf den Protagonisten, der die ganze Zeit edlen Ausländer-Rum säuft, während man mit angewinkelten Knien auf Kinderbestuhlung im Trockenen hockt. Am ergreifendsten ist die Schilderung des Weinviertler Winterwaldes, in dem es bei jedem Schritt knistert, wenn man über die Körper erfrorener Tiere geht. Gut beobachtet auch die Freuden des Alterns: „I kann jetzt wieda so liab waana!“
20.11.
München: sehr wohlhabend, sehr bürgerlich – ein hypertrophes Wels. Aber wen das überrascht, der bleibt auch im Dezember mit Sommerreifen am Brenner hängen. Reini, der schon seit 17 Jahren hier lebt, gestaltet uns eine nach persönlichen Erlebnissen strukturierte, sehr emotionale Stadtführung („Do hob i amoi mit aana Brasilianerin taunzt!“, „Des is a supa Sauna!“,“Herst! Wo is des Lokal hinkumma!?“). Die Öffi-Takte animieren zum Erwerb eines regional produzierten PKWs. Wir rasten in einem zuckerfreien shabby-chic-Laden, in dem man sich gegen Aufpreis CBD-Toppings auf die gerecht zubereiteten Kaffee-Spezialitäten träufeln lassen kann. Ein Karfiolkopf kostet am Viktualienmarkt 7,95 €, vielleicht probiere ich es im Gartenjahr 2022 doch noch einmal mit dieser wertvollen Feldfrucht. Verrückt: Das erste Bier trinken wir nach 18 Uhr. IN MÜNCHEN! Ich kaufe zwei sehr überteuerte glitzy Souvenirs, denn ich will auch ein bisschen bürgerlich und wohlhabend sein.
Es ist insgesamt sehr schön in München, vor allem ist es schön, mit genau diesen Menschen durch die Stadt zu strolchen. (Mit ihnen legte sich auch ein goldener Glanz über Grosny.)
21.11.
Letzter Abend vor dem Lockdown, also noch schnell zum Chinarestaurant Singapur. Alles entspannt mich hier immer. Die Chefin gratuliert dem Buttinger zu mir, denn ich sei eine „knusprige Jungfrau“.
23.11.
Das Rot des Buntspechts wirkt wie eine kostbare Verschwendung im Novemberbraun meines müden Gartens.
25.11.
Ein wenig schade ist es, dass Fini nicht live beim ORF-Dreh in den Schl8hof-Skaterpark gegackt hat, aber sie hat ihre schauspielerische Leistung voll abgerufen und wird mich an die von der Stadtjugend vollgesprayte Wand spielen. Zum Glück sehe ich im Frack schweinsgut aus, das muss reichen. Angeblich sei eine fette Ratte hinter mir durch das Bild gelaufen, während ich mich in historischen Erörterungen über mein störrisches Heimatland erging. Wehe, die wird rausgeschnitten! Ich meine die Ratte.
27.11. SCHÄRDING
Clemens entschuldigt sich, dass er dieses Jahr mit dem Schlachten der Haushühner nicht auf mich gewartet hat. Es sei aber wieder ein sehr existenzielles Spektakel gewesen, samt spritzendem Blut und einem Torso, der beinahe noch bis in den kleinen See geflattert wäre.
Iris erzählt, dass ebendort im Sommer einer der gigantischen Welse bauchoben getrieben sei. Die Entsorgung in die Tonne der Tierkörperverwertung habe sich insbesondere für die Jugend traumatisierend gestaltet – und leider noch zweimal wiederholt. Am Land erlebt man noch was! Starke Gefühle, auch wenn's die falschen sind! Es muss aber schon unheimlich sein, sich die Liegenschaft mit solchen verborgenen Monstern zu teilen.
29.11.
Ein einziger Satz aus einer Stunde Drehzeit schafft es in den Beitrag im ORF-Kulturmontag. Das OÖ-Bashing fällt sehr sanft aus, das übernehmen die Herren (wie eigentlich alles). Die Ratte hat es nicht hineingeschafft, dafür ein großer Penis, den jemand auf die Rampe hinter mir gesprayt hat. Aber der Hund läuft wie ein Model und ich sehe schweinsgut aus. Tatsächlich bin ich überhaupt nicht unzufrieden, so bleiben mir weiter die Mühen einer mittleren Karriere erspart. Mimi Hie bezeichnet ihre Mama übrigens als „Integrationsterroristin“, was mich sehr erheitert (und was mir meine Steyrer-Verwandtschaft später bestätigen wird. Mama Hie ist der Star der Siedlung in Christkindl).