Freitag, Januar 10, 2020

Dark Tourism im November. Attraktionen für starke Seelen.


November 2019
Tag 1: Wels - Belluno

Die Suche nach verlassenen Dörfern ist nicht ganz leicht, weil das Tal des Tagliamento im Spätherbst an sich recht verlassen wirkt. Aus einer Laune heraus biegen wir kurz nach Tolmezzo auf die S52 ab, der Weg über den Pass Rest scheint eine Abkürzung zu sein. Auf unserer Straßenkarte sind allerdings keine Isohypsen eingezeichnet. Die Straße schraubt sich in vielen Dutzend Kehren den entblätterten Wald hoch. In einer davon stehen die beiden ausgesetzten Ledersessel und warten auf niemanden. 
Der höchste Punkt steckt im Nebel, dann geht es sehr lange und in engen Kurven wieder bergab. Nicht ein Gebäude säumt die lange Strecke, bis wir wieder in der Ebene sind.
Obwohl wir Glück haben und die obersten Gemäuerreste von Movada aus dem Tramonti-Stausee ragen, müssen wir feststellen, dass nur dafür der Weg sich nicht gelohnt hätte - wenn nicht die menschenleere Wildnis ihre eigene Wirkung entfaltet hätte.


Diese Südseite der Alpen hat nichts Liebliches an sich, die Berge geben sich eher wie im rabiaten Ausverkauf ihrer selbst; sie ergießen sich in breiten, steilen Geröllhalden ins Tal, darin kleine Flüsse, die im Frühjahr bestimmt an allem reißen, was ihnen zu nahe kommt. Kalkkegel ragen auf, keine Almlieblichkeit hat auf ihnen Platz. 
Im letzten Licht durch das Val Cellina nach Belluno. 


Tag 2: Belluno - Longarone - Udine

Es sind keine anderen Touristen in der Stadt, nur Kongressteilnehmer, die um 7:30 im hellhörigen Hotel von ihren Handyweckern aus dem Schlaf gerissen werden. 
Der Regen wird immer dichter, was auf schlechte Weise zum ersten Tagesziel passt. In nassen Schuhen auf dem Friedhof von Longarone, das Gedenkmuseum ist heute geschlossen, durch die Scheiben sehen wir die zerschmetterten Autos und das Dutzend Uhren, die am 9. Oktober 1963 alle zugleich um 22:39 stehen geblieben sind. In dieser Minute ist die Flutwelle der "Frana" über die Staumauer des Vajont-Sees gebrochen, über vierhundert Meter in die Stadt hinuntergedonnert und hat ein Drittel ihrer damaligen Einwohner getötet (davon waren ein Drittel Kinder). Ein Großteil der fast 2000 Toten wurde weder gefunden noch identifiziert; der Piave hat einige von ihnen bis in die Adria gespült. 


"Tschernobyl der Wasserkraft" klingt reißerisch, stimmt aber. Die "diga", die Mauer, ist fast stehen geblieben, wie ein unversehrtes Denkmal der Ingenieursleistung. Den Schuttkegel kann man zunächst gar nicht als solchen erkennen, weil er einfach zu groß ist. Man kann es sich kaum ausmalen, wie der Hang des Monte Toc über fast zwei Kilometer glatt abgerissen sein muss.


Das Dorf Erto, damals halb verschont, ist heute selbst ein lost place, in dem nur noch ein, zwei alte Frauen leben; zumindest im November.


Es ist ganz und gar nicht unzulässig, sich beim grief tourism abends in einer schönen Stadt in einem leicht überteuerten Hotelzimmer zu erholen (Astoria in Udine). Es schließen ja auch hier die Türen nicht schalldicht, und draußen krakeelen proseccotrunkene Villacherinnen. 
Das Gefühl einer leichten Unangemessenheit ist integraler Bestandteil dieser Art zu reisen. Man darf sich seiner leisen Sensationsgier schämen, die sich - humanistisch aufmagaziniert - hinter der Kant'schen Erhabenheit versteckt. Auf der Staumauer zu stehen und sich den friulanischen Tsunami im Kopf auszumalen ist ok. Selfies sind ein sicheres Kriterium für eine Grenzverletzung. 
Groteske Polterbräuche im nächtlichen Udine. Der Bräutigam ist als Hirsch verkleidet (Geweih, Camouflage-Kleid, Gummistiefel), Passanten und die Braut schießen mit Soft-Guns auf das Opfer. Die Freunde wirken in ihren teuren Mänteln wie eine wohlstandsverwahrloste, sadistische Highschool-Mobbing-Meute.

Abends lesen wir in "Vergessen und verdrängt. Dark Places im Alpen-Adria-Raum", dass die Italiener bis zum Ende des Kalten Krieges eine Atombombe in Ugovizza im Kanaltal stationiert hatten, die sie im Fall eines sowjetischen Angriffs gezündet hätten. Der radioaktive Staub wäre nordwärts gezogen und hätte Kärnten verseucht. Man hat der Neutralität Österreichs und dem Frieden mit Jugoslawien wenig zugetraut.


Tag 3: Udine - Triest

Ab Duino geht ein saftiges Gewitter nieder, das bis zur Ankunft in der Risiera di San Sabba in einen kalten Graupelregen übergeht. Das einzige KZ auf italienischem Boden mit Krematorium (so die etwas seltsame Audioguide-Beschreibung der USP dieses Ortes). Österreicher sollten hier einen ganz seltsamen Neid empfinden, es wäre gut gewesen, nur eines verantworten zu müssen. Österreicher spielen in der Geschichte der einstigen Reismühle auch eine ekelhaft tragende Rolle.
Gedenkstätte, Wetter und das umliegende Industriegebiet harmonieren (wer hat behauptet, Harmonie müsse etwas Gutes sein?).
Es ist, wie bereits gesagt, legitim, sich nach solch einer ersten Tageshälfte eine Torta al limone im Tommaseo zu kaufen, diese Diskrepanzen muss man aushalten lernen, warum also nicht auch noch ein Krabbentramezzino?
Triest, das New York des Balkans an der Butter-Olivenöl-Grenze! Bislang bestes Souvenir: das Gebot, Montenegro, Cynar oder Pelinkovac NUR mit Soda und Zitrone zu mischen. Man esse in den Beizen, wo Filmfestivalkuratoren neben Handwerkern an der Budel stehen.


Tag 4: Triest - Socerb - Hrastovle

Am Karstrand, hoch über dem Golf von Triest; von hier zieht sich das Rižana-Tal in den Südosten, geht Italien ganz flüssig in Slowenien über. Die Sveta Jama und die Burg finden wir leicht, die Höhle darunter bleibt uns unauffindbar. Verlässlich hat sich die Gemeinde eine eigene Heiligenlegende geschrieben (der heilige Servullus soll 21 Monate in der Grotte gehaust haben, ein Zwölfjähriger! Und verlässlich bewirtschaftet ein Scharlatan den Mythos (hier ein Rebirthing-Wunderheiler).


Zwei Höhlen in der Nähe haben die Partisanen zu Massengräbern gemacht. Bis vor wenigen Jahren ein heikles Thema im slowenischen Karst. Bei Gelegenheit Martin Pollacks "Kontaminierte Landschaft" wieder lesen. 
Es lohnt, die Kirche in Hrastovlje anzusehen, man soll nur vorher in der regionalen Küche nicht übermäßig aufgeschlossen sein. Buttinger quält jeder Löffel der Rotweinsuppe, nachher ist er besoffen ohne Freude daran. Vielleicht fahren ihm aber die Totentanz-Fresken danach besonders gut. Mir, die ich noch nüchtern bin, aber auch. Der Händler, der den Tod bestechen möchte, müsste in das Stadtwappen von Wels. Der furzende Jäger ist am schönsten.


An der Mole von Triest bemerken wir, dass wir uns beide unabhängig voneinander vorgestellt haben, wie das riesige Kreuzfahrtsschiff in das Rathaus rauscht. Vielleicht holt dark tourism nun das Schlechte in uns heraus. 

Wieso gibt es in Österreich und Deutschland eigentlich keine verlassenen Dörfer? Sind die Menschen dort zu ordentlich? Warum lassen die Italiener Gebäude lieber verrotten, statt sie abzureißen? Gibt es dazu schon Dissertationen? Würde ich sie schreiben wollen? Warum trägt die Figur auf der Fontana dei quattro continenti ein Handtuch über dem Kopf? Fragen am Ende eines sehr pittoresken Tages. 


Tag 5: Triest - Kočejve - Ljubljana



Slowenien besteht zu 78 Prozent aus Hinterland, aber im Vergleich zum Friaul aus funktionalem. Von den Gottscheberern sind dafür tatsächlich nicht einmal Ruinen geblieben, so gründlich hat man ihre Spuren vernichtet. Der Wald zwischen Gorenje und Stari Log gehört jetzt den Bären, vor denen Schilder an den Raststellen warnen. Eine schöne Strecke, auch im November. Buttinger jedoch lebt erst wieder im Krka-Tal auf, ohne Flüsse und Fische lockt ihn keine Landschaft aus der Reserve.



Tag 6: Ljubljana - Loiblpass - Wels


Sobald wir über die Grenze kommen (wo die Pässe noch streng kontrolliert werden), beginnt es im dichten Nebel auch noch heftig zu regnen, hart an der Grenze zum Schnee. An der Nordseite des Passes müssen wir ohnehin nicht aussteigen, die ganzen relevanten Teile der Gedenkstätte befinden sich auf der slowenischen Seite. Eine Schande.

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