Der Roman, an dem ich "schreibe", hat in meinem Leben meistens nur den Sinn, die Arbeit an allem anderen zu ermöglichen. Manchmal kann ich damit aber selbsterlebte Pein verarbeiten. Im Vorjahr etwa durfte ich einem famosen Kollegen eine Laudatio halten, allerdings erst nach Erleiden eines Motivations-Vortrages von einem "Keynote Speaker". Vergangene Woche musste der Motivator von seiner Funktion zurücktreten, weil er mit einer Zeile aus einem SS-Lied im Werbeheft zum Burschenbund auffällig worden war.
So geht nun also die entsprechende Passage aus dem Roman:
"Routiniert bedient der Redner die PowerPoint-Präsentation. Sie zeigt ihn selbst beim Triathlon, er spricht über Motivation und Schmerz. Das nächste Bild zeigt eine Bergschlucht mit weichgezeichnetem Fluss. Als „Werte erzeugen Emotionalität“ eingeblendet wird, erkennt Johanna, dass der Alumnimann beim Versprechen, er werde sich kurz halten, denn es hätten bestimmt schon alle Appetit, einen zynischen Scherz gemacht hat. „Markenkern ist essenziel“ steht nun über einer modernen Powerpoint-Wohnlandschaft aus Sichtbeton. Immer größer wird Johannas Sorge, dass ihre innerliche Pein sichtbar werde und hat Angst, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, sie stellt sich vor, dass er gleich von selbst aufsteht, den Tisch umwirft, den NLP-Jünger dermaßen anbrüllt, dass er sich eine Tröpfeninfektion holen könnte, und sich draußen beim Büffet mit beiden Händen Bratenschnitten ins Maul schiebt. Johanna würde gern ein wenig weinen, nur ganz still. „Die Jugend ist auf der Sinnsuche: Traditionen ist wieder cool“ blendet der Redner ein, er berichtet von der „schönen Entwicklung“, dass jetzt wieder alle Maturanten Tracht trügen. Am Gipfelpunkt des Auseinanderklaffens von Innen- und Außenleben fällt Johanna erst auf, dass ihr Nachbar dieselben mühsam unterdrückten Symptome der Empörung zeigt. Er wechselt die Sitzposition, als brenne die Haut auf seinem Hintern. Er atmet unregelmäßig. Beim Stichwort „Ich komme zur Zusammenfassung: Was sind die Quick Wins?“ neigt Johanna leicht den Kopf in seine Richtung. Er kommt ihr entgegen, hebt die Handflächen nach oben. Er flüstert ihr ins Ohr. „Haben Sie auch Angst, im Sterbebett an Momente wie diesen zu denken?“ Johannas Körper lacht grunzend, und weil ihr ohnehin schon alles peinlich ist, dreht sie sich zum und fragt den Hintermann flüstern, ob er mit ihr durchbrennen wolle, „spätere Heirat nicht ausgeschlossen.“ „Ich bin zu aufgewühlt für große Entscheidungen“, flüstert er, „aber brennen wir einmal bis zur Saftbar miteinander durch.“
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