Erst in meinem 42. Lebensjahr ging mir die Kraft im Ringen um Individualität aus. Eine mittlere Befindlichkeitskrise, eine über Tage anhaltende Stimmungseintrübung führten mir vor Augen, dass ich nichts Besonderes war und auch nicht mehr werden wollte. Vielleicht hatte die Wetterberichterstattung Anfang August den Keim gelegt, von einem „außergewöhnlich durchschnittlichen Sommer“ sprach, und ich las das mit dem mich selbst überraschenden Gefühl einer grundlegenden Zustimmung. Das müsste doch reichen, dachte ich, und dass ich wahrscheinlich ohnehin nie das Zeug für einen Platz an der Spitze gehabt hatte, in keiner Sparte – abgesehen von den Genres „Selbstboykott“ und „Mittelmäßigkeit“.
Als der Nussbaum also begann, mir mit seinen fallenden Blättern den Pool zu versauen, erlosch in mir das Bedürfnis, mich von anderen abzugrenzen, vor allem nicht durch Exzellenz. Von der Scham befreit, etwas Besseres zu sein, legte ich mich hin wie müdes Laub. Ich fühlte mich nach diesem Distinktionsinfarkt wie Bobby McGee in Baton Rouge, es war ok, dass es nur ok war. Es war wie in die Hose machen im eisigen Ozean, es war wie das Entzünden des letzten Zündhölzchens vor dem Erfrierungstod. Ich hatte nicht einmal das Gefühl, dass das ein gutes Statement gegen die neoliberale Leistungsgesellschaft sei. Ich war einfach gegenüber meinem ständigen Meinen und Interpretieren und Sondieren und Kategorisieren ertaubt, als sei ein alter Tinnitus verklungen. Wie eine Depression, die sich selbst egal ist: Freiheit auf niedrigstem Niveau, als Freiheit von jedem Wollen.
Tagelang blieb ich zuhause, entmooste den Rasen, entfernte das Unkraut in der Einfahrt mit Roundup und bestellte bei Bellaflora 37 Kirschlorbeerstauden. Abends informierte ich mich auf RTL 2, was ich in den vergangenen Jahren alles verpasst hatte und was ich mir fürs Wohnzimmer und für die Herbstkollektion auf Amazon bestellen könnte. Auf Ö3 erkannte ich den Segen iterativer Rhythmen und verstand gar nicht mehr, warum ich noch vor kurzem Auto-Tune-Effekte mit Leidenschaft gehasst, und umgekehrt mich um Verständnis für Jazz bemüht hatte, bei dem ich ohnehin nie begreifen würde, an welcher Stelle man hätte klatschen sollen. Die ZEIT bestellte ich ab, auch den Falter und den Standard – ich war ein Lektüre-Sisyphos gewesen, dem ein neuer Papierberg erwuchs, sobald er den alten weggelesen hatte!
An einem dieser Tage mit erstem Frühnebel und klarer Mittagssonne ging ich, ohne irgendetwas zu planen, milde euphorisiert von meiner Kapitulation, auf die Straße, ich nahm den Bus nach Linz und stieg an der Donaulände aus, am Ufer unseres lieben österreichischen Mainstreams. Als hätte sie auf mich gewartet, strömte eine Menge dem Hauptplatz zu, und in stumpfem Glück ließ ich mich sanft mitziehen wie ein alter Lachs vom Schmelzwasser, gegen das er nicht mehr ankommt. Alles rund um mich verschwomm zu einer Masse, aber nicht als etwas mir Fremdes. Ein junger Mann zog mir sanft die Gesichtsmaske von der Nase, eine ältere Dame lächelte mich an und reichte mir einen schwarz-weiß-roten Wimpel, ich schwenkte ihn wie ein Kind auf dem Urfahraner Jahrmarkt. „Freiheit! Freiheit!“ skandierten meine Mitmenschen, und ich fiel ein, „Freiheit! Freiheit!“ Es war so schön. Im Arkadenhof des Landhauses ballten wir uns noch enger zusammen, um kein Wort von den Ansprachen zu überhören, die gleich beginnen würden.
Ich sah mich um, so gleichförmig war sie gar nicht, diese breite Masse, in der unterzugehen mir meinesgleichen nie verziehen hätte, in meiner Blase wollten ja alle nie so sein wie alle anderen!, aber hier erkannte ich echte Diversität – Impfgegnerinnen in Bio-Linnen, toxische junge Männer mit kahlrasierten Schädeln, grauhaarige Freikirchler, Bodybuilder mit „Fridays for Hubraum“-Shirts, irgendwo stand Gottfried Küssel, mein Gott, im Zweiten Weltkrieg gab es Extremismus von beiden Seiten, wer sind wir, über damalige Zeiten zu urteilen! Alle meine Mitmenschen trugen ihre Stammestracht mit Stolz, und ich fühlte mich wie Karl May, der hier nun zum Bruder Scharlih der Apachen werden durfte.
Aus einer Kehle erklangen unsere Buh-Rufe, als wir einen Redakteur der oberösterreichischen Systemmedien erkannten, der uns ganz augenscheinlich aushorchen und in seinen verlogenen Artikeln ins rechte Eck drängen würde. Es wurde erst wieder ruhig, als er sich trollte. Wir jubelten, die Meinungsfreiheit war gerettet durch unsere Zivilcourage! Nun huben die Reden an. Mit wachsender Zustimmung lauschte ich; ich erwachte und wurde ruhig zugleich. Das Walten zuvor verborgener Kräfte, die uns zu entzweien versucht hatten, trat klar zu Tage, wer da im Hintergrund die Zügel in der Faust hielt, um uns unters Joch zu spannen! Na klar darf man Israel kritisieren, wie jeden anderen Staat auch! Und die Banken sind ja wirklich Dreckschweinderl, wer würde widersprechen!?!?!
Schließlich hatten wir als Masse einen Punkt erreicht, an dem unsere Macht auszufahren begehrte. Wir verdichteten uns vor dem Aufgang zu den Sälen, in dem die Landesregierung unsere Freiheit beschneidet, das Plexiglas der Sicherheitsschleuse wankte schon. Die Befehle aus den Megaphonen der Polizei machten uns nur umso wütender. „Freiheit! Freiheit!“ brüllten wir wieder, und ich schrie, bis es mir dann schwarz vor Augen wurde.
Am nächsten Morgen brachte mich der Buttinger zur Ärztin, die mir sagte, ich müsse besser auf die Dosierung meiner Antidepressiva achten. Sie frischte meine Tetanus-Impfung auf, ich ließ es über mich ergehen, weil ich offenbar einen Polizeihund ins Ohr gebissen hatte, und zwar so fest, dass ich mir an seinem Chip das Zahnfleisch aufgerissen hatte.
Nach einem recht trüben Herbst in sozialer Distanz habe ich im Jänner wieder begonnen, an meinem Roman herumzuschreiben und an meiner Unverwechselbarkeit zu arbeiten. Es geht mir ganz gut, aber manchmal fehlt mir das Wir-Gefühl wie in einem Heroin-Flashback.