In den letzten Jahren ist das Interesse an Fresskünstlern stark zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, eigene Programmschienen für Esswettbewerbe einzurichten, ist dies heute völlig unmöglich. Es ist noch nicht lang her, da beschäftigte ein Fressgenie die ganze Stadt: das schärfste Curry, der gewaltigste Schweinsbraten, der längste Apfelstrudel. Steaks, so dick, dass es eigens gezüchteter Kühe bedurfte, eine hätte nicht gereicht für den riesigen Lappen Fleisch, den der Esskünstler vor den staunenden Massen zu verschlingen gedachte. An den Wänden der Restaurants prangte sein Kopf an der Wall of Fame, „Ein ganzes Pferd an einem Abend!“, Kinder drängten sich vor der Bühne, auf der er – innert einer Woche und bewacht von streng asketischen Veganern – einen ganzen Elefanten aß. Man wollte es gar nicht glauben, wieviel der Esskünstler vertilgen konnte, man fasste ihm ungläubig an den geblähten Bauch und wich glücklich erschrocken zurück, wenn er furzend sein Verdauungswunder zum Beweis brachte. Aus all den überzähligen, zur Zucht ungeeigneten oder im Alter falb gewordenen Tieren des Stadtzoos ließ er sich sein überwältigendes Wunschmahl zusammensetzen.
Ein Höhepunkt war der Verzehr eines ganzen lebenden Panthers, den in der Manege erst zu schlachten die besondere Herausforderung darstellte. Wie er die Großkatze mit bloßen Händen niederrang, mit den Zähnen im Genick totbiss, stundenlang fachgerecht zerlegte und innerhalb dreier Tage mit Haut und Haar aufaß, das muss als der letzte große Höhepunkt für den Esskünstler gelten.
Der Umschwung kam ganz plötzlich; im Fernsehen wurde das große Fressen höchstens noch als Pausenfüller in Privatsendern gezeigt, wie etwa der Verzehr der weltlängsten Bratwurst zwischen „Jung und verdorben“ und „Reife Frauen besorgen's dir ganz in deiner Nähe“.
Der Esskünstler mochte noch so viel essen, die Quoten nahmen ab. Er nahm seine wachsende Irrelevanz gleichmütig zur Kenntnis, trotz schwindender Zuseherzahlen aß er weiter, so viel wie nie zuvor in seinem Leben. Den ganzen Butterberg der EU, verendete Eisbären, falsch gekrümmte Gurken, Darmkeimsprossen, 33% des britischen Rinderbestandes, bulgarische Zugpferde. Er arbeitete ehrlich, aber die ganze Welt betrog ihn um seinen Lohn.
Eines Tages fiel einem Produktionsmanager von RTL2 der Esskünstler auf, der konturlos am Boden der Senderkantine lag und Fipronil-Legebatterieeier aß, eines nach dem anderen, dabei aber immer langsamer werdend. „Du isst noch immer?“ „Verzeiht mir alle“, hauchte der Esskünstler, „Gewiss“, log der Produzent, der seinen Zustand erkannte. „Immerfort wollte ich, dass ihr mein Fressen bewundert,“ sagte der Esskünstler, „ihr sollt es aber nicht.“ „Warum denn nicht“, fragte der Mann vom Privatsender, kaum vom Handy aufsehend. Der Hungerkünstler hob mit einer letzten Anstrengung den Kopf und kämpfte gegen das den Mund zuwuchern wollende Fett. „Weil ich essen muss, ich kann nicht anders. Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir nicht schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaub' mir, ich hätte mich daran schlank gefastet.“ Das waren die letzten Worte, die Bauchdecke des Esskünstler gab nach, mürbe geworden unter dem Druck der Jahre. Aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste Überzeugung, dass er weiteresse.
„Frau Dragica, nun machen Sie aber Ordnung!“ rief der Produktionsmanager, und man übergab den Esskünstler der Tierkörperverwertung. Es war eine Erholung, an seinem früheren Sendeplatz die Diätköche zu sehen, die Reiswaffeln mit fettarmem Gouda belegten und veganen Sandkuchen mit Stevia buken. Für die Zuseher war es nicht leicht, der Askese zu genügen, aber sie umdrängten den Fernseher und wollten sich nicht fortrühren.
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