Phantomereignisse im April 2022
1.4.
Bergsteigen als Auseinandersetzung mit dem Nicht-Sein, als Wunsch, „für einen kurzen Moment das Selbst völlig aufzulösen.“ Aber nicht aus Todessehnsucht, sondern ganz im Gegenteil: als Suche nach Momenten großer Lebendigkeit außerhalb seiner selbst.
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Das Zusammensein mit den ganz vertrauten, alten FreundInnen zeigt die Vielfalt der Universen, die alle anderen auch in sich tragen. 9 Milliarden andere Untiefen und Galaxien, man erschrickt fast, aber im Guten. An diesem Tag schreibe ich auf unsere Lichterfest-Einladung den Satz von Nan Shepherd: „Einen anderen kennen zu lernen, kommt zu keinem Ende.“
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Seit ich den Hund in die Kletterhalle mitnehme, komme ich mir vor wie in „Cheers“ „Where everybody knows your name!“
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Leichte Manie bei der Verteilung der Materie im Haus. Allmählich kann ich alle meine geerbten Räume betreten, ohne mich zwischen Riesenmöbeln durchzwängen zu müssen. Den Nachbarsbuben habe ich zum Dank fürs Hinaustragen der überdimensionalen Wintergartengarnitur das Schnaps-Menschärgeredichnicht geschenkt, es wartet jetzt in der Dr.-Josef-Meindl-Gedenk-Ecke im Goldberger-Garten auf frohe Stunden.
3.4.
Heute hätte ich im Theater über Wels viel lernen können, wenn ich aufgepasst hätte.
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Der von Putin soeben geschasste Intendant des Bolschoi-Theaters heißt Wladimir Urin. Guter Mann, blöder Name.
5.4.
Wenn man beim Zugfahren nicht aufpasst und mitten in einem Tunnel zur Besinnung kommt, fragt man sich, ob der immer schon da war.
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So etwas närrisches wie die Gründung der pataphysischen Gesellschaft habe ich in meinem 43-jährigen Narrendasein überhaupt noch nicht erlebt! Starker Projektgedankengang: Transakustische Kommunikation mit Toten – also mit der Welser Innenstadt, dem Gebirge, Daniel Küblböck etc. Simon Goritschnig zeigt mir einen der dummschönsten Situationswitze der Welt – man müsse sich, wenn einen jemand nach der Uhrzeit fragt, ins Handgelenk beißen, den Abdruck herzeigen und „Zähne“ sagen (Obacht, „diffèrance“!).
Es wird zur Aufführung eines pataphysischen Konzertabends kommen, bei dem niemand ein Instrument beherrschen darf. Fritz Ostermayr ist übrigens Gründungsmitglied des Linzer phiharmonischen Orchesters, dem ich letztlich meine 150 € Theaterrabatt für den Frack verdanke. Er stellt auch eine Forschungsfrage in den Raum, warum nämlich es aus einem Menschen heraus, aber nicht hineinschwitzen könne, und warum er sich nicht auflöse, wenn er sich in einen Sumpf lege. (In meiner bescheidenen Ansicht tut das der Körper auch, nur eben langsam und eher, wenn er tot ist – wenn er lebt, bleibt er Körper wegen der unterschiedlich starken Osmose auf den Hautseiten. Man nimmt ja Wasser auf, darum ludeln wir so gern in Gewässer – je größer, desto stärker ist der Harndrang. Am schönsten ist es, ins Meer zu wischerln. Die Pataphysik könnte sich z.B. mit der Frage beschäftigen, ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen Adria und Pazifik gibt).
Ich schlage vor, eine paramilitärische Organisation zur Wahrung der zivilen Unsicherheit zu gründen; die Mitglieder tragen Bomberjacken mit „Insecurity“ auf dem Rücken, und wenn in einer öffentlichen Debatte einer zu selbstsicher auftritt, wird er des Raumes verwiesen.
6.4.
Coalas Anti-Rauch-Kreuzzug in ihrem Haus hat zur Folge, dass sich die Kopftuch tragenden Nachbarinnen jetzt immer bekreuzigen, wenn sie ihr am Gang begegnen.
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Am Bahnhof Wien-Meidling: „Ich schau drauf, dass ich täglich zwei verschiedene Tiere esse.“ Dani erzählt, dass ihr Freund Olaf gerade zwei Diäten mache, da er von einer allein nicht satt werde.
7.4.
Business-Idee „Natural Style“: Man tupft und streicht eine Stunde lang im Gesicht der Kundin herum, ohne etwas zu bemalen, weil es nur darum geht, dass sich ein Mensch eine Stunde lang liebevoll mit dem Gesicht beschäftigt. Im Idealfall tritt ein Placebo-Effekt ein, dank dessen man sich eh als nicht so schiach erkennt.
Dasselbe vielleicht bei kleinen chirurgischen Eingriffen? Wie machen das Energetiker, brauchen die einen Gewerbeschein für ihren Brimborium?
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Ob die Putin-Versteher wenigstens auch verstehen werden, dass die internationalen Frauen demnächst eine militärische Spezialoperation gegen die Männer ausführen, weil sie seit Jahrtausenden durch die Ost-, West-, Süd- und Norderweiterung des Patriarchats provoziert worden sind?
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Wer sein Kind Ansgar, Notker und Ekhard tauft, kann es gleich auch schon für das Theologiestudium immatrikulieren.
8.4.
Martin Fritz leitet eine Online-Klasse der „schule für dichtung“ mit der Aufforderung, einmal ohne Blatt vorm Mund Tiere zu kritisieren. Vielleicht schreibe ich, dass Fini derzeit oft versucht, mich in die Armbeuge zu bumsen.
10.4.
Es gibt einen Begriff namens „Glockenspeise“, ich schreibe mir nicht auf, was er bedeutet, damit ich das vergesse und mich in ein paar Monaten daran erfreuen kann.
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Ich berichte der Nachbarin genervt, dass der Josef jeden Tag im Garten darauf lauere, mir die Fini zu schwängern, und dass er aus Frust täglich riesige Haufen auf den Rasen scheiße. Weil die Nachbarin eine Maske trägt, bemerke ich ihr entgeistertes Geschau erst spät und halte inne, bevor ich entsetzt feststelle, dass sie nicht weiß, wie der Nachbarhund heißt, von dem ich sprach – nicht vom Goldberger gleichen Namens. Man will nicht wissen, welche Bilder sich die arme Frau ausmalen musste.
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Heute ist der historische Tag, an dem ich sämtliche noch herumliegenden Teile der ZEIT weggelesen habe, mit Ausnahme der depperten Kreuzzugs-Reisebeilagen (ächz, und auch die Literatursonderhefte).
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Rennradfahrer – die Audifahrer des nichtmotorisierten Verkehrssegments.
Kreative Wiederbetätigung in Wels
12.4.
Ich lasse den Tippfehler bei den ZEIT-Beilagen stehen.
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„Unterlassene Kulturgutschändung“ (René bei der Lesebühnenbesprechung, Kontext vergessen)
„Schauen Sie, wie der Traunstein uns heute besucht!“ Der Narr vom Auwiesner Jaukerbach macht sich vorstellig. Als ihn Fini bepfötelt, sagt er fröhlich, „das ist ja nicht mein Bewerbungsanzug, das ist ein Trainingsanzug!“
13.4.
„Da wird das dann feierlich entweiht.“ Irgendwer beim Zoom-Meeting
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Heute ist es mir dank Schönwetters gelungen, an sämtlichen Entspannungsplätzen rund um das Haus zu sitzen, aber ich musste mich ganz schön ranhalten, uff.
14.4.
Der täglich anschwellende Orchesterklang der Vögel ist der Soundtrack zur Vielstimmigkeit der Dinge, die nach Aufmerksamkeit und Erledigung rufen.
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Eine Geschichte über eine unvollständige Liebe schreiben, in der man also – analog zur body integrity disorder – nur den Arm oder den Kopf des Gegenübers liebt. Fini ist übrigens immer noch körperlich in meinen Ellbogen verliebt.
15.4.
Zwei Seiten Merleau-Ponty, und die Reflexionen tanzen: Wie schön, das wilde Denken! Hui, wie gescheit wir einmal alle waren. Ächz, gibt es ein eigentliches Sprechen nach den ganzen Referenzen an die anderen Referenzsprecher? Hat es in den 60er-Jahren wirklich nur Männer gegeben? Oida, es ist 20 JAHRE her, dass das zuletzt gelesen habe! Ich muss mich hinlegen.
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Neuer Trend „Involution“ (China): Die armen Frösche unterlassen das Buttertreten in der fettfreien Milch des Neoliberalismus und ertrinken, in Anerkennung ihres Loses.
17.4.
Stubenreine Dackel züchten kann jeder (sinngemäß nach Tucholsky, im ZEIT-Interview mit D. Yücel)
18.4.
Auf dem Weg hinauf zum Feuertalberg mit einem Fledermausforscher. Zuerst hatte ich noch geglaubt, der Sterrer verarscht mich. Im Übrigen eine „ernsthafte Bergfahrt“, hinunter ging's in „munterer Schussfahrt“ (die beiden Herren haben viel Rabeder gelesen). Von heute an muss auf die Frage, ob sich das ausgehe, immer so geantwortet werden: „Mit viel Schwung drüber!“
19.4.
Ein „Kollege“ (er schreibt auch was) bezeichnet in einem Facebook-Posting Roma als „Parasiten“ und antwortet auf meinen strengen NS-Verweis, dass ich selbst denke wie ein Nazi. Am schlimmsten finde ich, dass er ohne Ironie „Tschüss mit Ü“ schreibt. Es ist derselbe Mann, der mich einmal gefragt hat, ob er zur GAV OÖ kommen könne, denn die Wiener seien alle „Stalinisten“. Als ich ihm sagte, wir seien aber auch „gscheit links hier“, wandte er sich wortlos ab. Ungeheuerlich auch, dass er nicht StalinistInnen gegendert hat.
20.4.
Dada auf Ö1: „Morgen begrüßt sie Albert Hosp, der eine Gießkanne als Fragezeichen hat... äh als Kindergarten.“ Dann folgt eine Ausgabe von „Vom Leben der Natur“, in der ein Biologe Folgendes berichtet: „Das Liebesspiel der Holzböcke darf man sich nicht sehr romantisch vorstellen.“ Das ist untertrieben: Der Bock kriecht mit dem ganzen Oberkörper in die Zeckin hinein. Dann riefen die Leute an und sagten „Iiiii, die sind so arg, die saugen sich sogar gegenseitig aus!“ Dann folgt die Bezeichnung von Holzbocksperma als „Zeckenkaviar“. Blärf!
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Finis Knuspern von Trockenfutter ist mein neues Wohlfühlgeräusch geworden, es ist fast so schön wie das Wischeln des Geschirrspülers oder das dienstfertige Röcheln alter Filterkaffeemaschinen. Entweder hat sich meine Misophonie gebessert – oder ich liebe dieses Tier wirklich.
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„Killing in the Name of“ ist 30 JAHRE ALT!!!!!!! AAAAAAARGH!!!!!!
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Heute Morgen habe ich mich über etwas echauffiert, an das ich mich gerade nicht erinnern kann, aber daran, dass Buttinger lachend das Schlafzimmer verließ und den Hund mit den Worten zu mir schicke, sie möge diesen „Ersatz-Che-Guevara“ beruhigen.
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Seit Monaten zwei, drei verschiedene Bach-Ohrwürmer, aber das Hirn ist musikalisch zu dumm, um sich mehr als zwei, drei Takte daraus zu merken.
21.4.
Große Freude mit den Herren Hirschl und Hütmannsberger gestern im Schl8hof! Am besten vielleicht Hirschls „Ironische Revolution“ aus dem Jahr 2033, nicht zu verwechseln mit der „Iranischen Revolution“ von 1979. Weiters: Die besten Dinge im Leben sind gratis. Plastikgabeln, Apothekenrundschauen, Sackerl für Hundekot, Hundekot, die Geburt.
Am wichtigsten ist mir, dass sich Elias und Chris vom Nationalsozialismus distanziert haben!
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Die Freude setzt sich fort, denn Martin Fritz hat meinen erbosten Ö1-Hörerbrief über den „Zeckenkaviar“ mit einer lieben Rezension versehen.
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Wieder ein viel zu kurzer Tag heute, weil ich machen konnte, was ich wollte.
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Vernissagen-Eröffnungsreden-Vorbereitung mit Dieter Decker, der sagt: „Ah, dann bist du auch eine, der es ein bissi wurscht ist, das ist sehr entspannend!“ Er meint, er verstumme automatisch, wenn ihn mehr als zehn Menschen hören könnten, mir geht es genau umgekehrt. Also wird er mir einfach alles ins Ohr sagen und mich als menschliches Megaphon gebrauchen, es wird werden wie damals beim Bürgermeister von Montevideo (ich google jetzt nicht, wie lange das schon aus ist).
22.4.
Sind blinde Menschen eigentlich weniger anfällig für die Dummheit des Rassismus?
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Ob das, was man schreibt, etwas kann, lässt sich von einem selbst nicht feststellen, so wenig, wie man sich den eigenen Ellbogen abschlecken kann.
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Das nicht gefundene Osternest am Waldrand nehme ich nicht mit, obwohl es vielleicht noch gut ist. (Ich mache Fortschritte).
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Klassentreffen auf der Ottensheimer Fähre, wir fahren einfach hin und her, mit jedem Seiterl und mit jeder halben Stunde verwandeln sich die Gletscherforscher, Pensionisten, Soziologen, Gemüsebauern, Psychologinnen und Brennpunktgemeindeärztinnen wieder in die Menschen, die sie damals schon waren. Und mit jeder Überquerung der Donau wird es menschlich wärmer im kleinen Passagierraum, bis ich in Wilhering rausgeschmissen werde, weil der Hund zwei sehr grässliche Fürze in die Kammer gestellt hat.
Wir sitzen dann den 1987er-Jubiläumsjahrgang aus (Teile der 67er sind schon lange von der Bierbank gekippt), dann sind plötzlich alle bei mir daheim, trinken grusigen Tankstellen-Weißwein und tappen zum Klang meiner Nirvana-Platten im Wohnzimmer auf den geerbten Perserteppichen herum. Es ist so schön, wie es früher nie war, obwohl das „sturmfrei“ im Haus so einen traurigen Grund hat. Vor 25 Jahren haben wir uns noch mit saurem Apfel das Augenlicht genommen, heute lässt jemand sogar den Qualitätsschnaps auf dem Klo stehen und beim spätnächtlichen Heimgehen trägt jeder noch was mit runter in die Küche. Nach zehn Minuten Flaschenverräumen ist alles wieder tipptopp. Mit Coala trinke ich die Neige einer Weißweinflasche aus, wir spucken aber sofort wieder aus und sehen auf dem Etikett nach, ob die Freunde etwa irrtümlich Frostschutzmittel gekauft haben. Die nicht getrunkenen Flaschen wandern volley in die Tombola des Grauens, denn ein Schluck mehr und ich müsste nach Bratislava, um die Augen neu lasern zu lassen.
23.4.
Osterempfang. Die Schwestern gehen in mein Verkleidungszimmer, um sich die Outfits als Brautjungfern auszusuchen. Eierlikörtorten, drei Hunde, Osternester, Biere in der Abendsonne. In den vergangenen zwei Tagen hat sich das Haus wieder mit menschlicher Energie aufgeladen wie ein sozialer Borg-Würfel. (Das Aufräumen nach dem gesitteten Familienfest dauert übrigens dreimal länger als das Saufgelage gestern).
24.4.
Tiefe Befriedigung beim Aufräumen des Fahrradraums – die Tombola des Grauens, die eigentlich der Entrümpelung des Hauses dient, bekommt jetzt einen eigenen Raum.
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Anna Wimmer nach Erhalt der Einladung zum Lichterfest: „Ja, will denn heute niemand mehr in wilder Ehe leben?!“ Angesichts steigender Gaspreise habe sie aber Verständnis, dass man näher zusammenrücke, auch wenn ich Buttingers Pflegebedarf mit der Witwenpension möglicherweise teuer bezahle. Thomas Schandl fragt, ob eine „Verpartnerung der Städte Wels und Brunsbüttel anstehe“.
25.4.
Ein grauer Vogel unbestimmter Natur zupft emsig die Kirschblüten vom Baum, das wird der schönste Anblick eines schönen Aprils.
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„Die Neurose ist ein individueller Mythos.“ Merleau-Ponty
26.4.
Ich bräuchte einen sterilen Arbeitsplatz, in dem es nur leeres Papier, Word-Dokumente und nichts gibt, so wie in einer Chip-Fabrik. Mittlerweile verlangen schon ganz profane, nicht-professionelle Erledigungen nach leichtem Druck. „Jetzt schnell Frühstücken, sonst hab ich weniger Zeit für den Kaffee nach dem Mittagessen!“
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Was fährt die ProkrastiNationaldichterin? Natürlich einen Ford UnFocus.
28.4.
„Ah, das ist eh ein Weiberl, der schaut so männlich aus.“ Die Gendersauerei überträgt sich auf den Hund; wie der Herr, so's Gscherr.
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Vater Gumpenberger freut sich über die Einladung zur Verpartnerung, ist zugleich aber entsetzt über das zivilrechtliche Konstrukt, da es kein Monogamieversprechen beinhaltet. „Dabei hätte ich euch beim Ehevorbereitungskurs eh nicht durchfallen lassen, obwohl ihr schlecht abgeschnitten hättet!“
29.4.
Weil ich jetzt erwachsen bin, sehe ich kommendes Totalversagen voraus und übergebe das Absingen von „Fake Plastic Trees“ gleich an René Monet. An den modernen Klassikern hat sich schon so manch einer überhoben. Beim großen Applaus war ich dann natürlich trotzdem enttäuscht von mir.
Extragrauenvolle Tombola mit Tankstellen"wein" und später von mir unterschlagenem Nostalgie-Schnapsfass
30.4.
In der Walpurgnisnacht verbrennen Buttinger und ich alles, was nicht nagelfest ist. Zuerst die Einkommenssteuererklärungen des Vaters, dürre Kakteenblätter, Kirschlorbeeräste. Am Ende riechen wir nach Superbenzin (noch von der Fahrt mit dem neuen alten Citroën) und Räucherspeck.