Montag, April 15, 2019

Schönering. Ein Ort gibt nicht auf. Eine Schrift anlässlich des 90. Wiegenfestes von Alt-LH Josef Ratzenböck

Aus: "In der Heimat der Fußkranken"

Wir gehen vorbei an der renovierten Raika-Bank, laufen über die Bundesstraße und nehmen die Abkürzung durch den Friedhof. Auch der ist vor wenigen Jahren erneuert worden, seit das Dorf vom Bauchspeck der Kulturhauptstadt überwachsen wird. Ganz, als ob der vergrößerte Weihgrund den Greisen das Ableben schmackhaft machen soll, weil die Jung- und Akademikerfamilien Platz brauchen. Vor zehn, fünfzehn Jahren ist Schönering in die Kategorie des Vorstädtischen gekippt. Aber ich hatte als Kind noch rechtzeitig bei den benachbarten Bauern das Schlachten ihrer letzten Schweine und Stiere beobachtet, bevor sie ins Ausgedinge gingen oder auf Bauernparty-Eventmanager umstellten. Damals hatte ich nächtelang schlecht geträumt. Aber beim Studieren konnte ich später viele Bürgerskinder und BWL-Studentinnen mit meinen einschlägigen Landerlebnissen beeindrucken.
Franz ist mit seiner Familie vor wenigen Jahren ins Haus neben meinen Eltern gezogen. Er arbeitet in der Stadt und kommt vom Land; das aber richtig – nämlich aus dem Sauwald. Den Zentralraum empfindet er einerseits als ›identitätsarm‹; er spottet bei jeder Gelegenheit über die nahe PlusCity und den unmotivierten Dialekt der Menschen hier. Andererseits ist er so integrationswillig, dass er dauernd im Pfarrblatt abgebildet ist. Fledermauswandern mit den Grünen, Sonnwendfeuer mit den Schwarzen, Punschtrinken für die Feuerwehr, Mostkosten mit den Roten, Knödelsonntag in der Kirche, Filmschauen mit dem Pfarrer. Nur für den Kornblumenball ist er sich zu schade, obwohl er gerade dort noch das alte Schönering mit seiner hohen Nazi-Dichte erleben könnte. 

 Symbolbild "Franz mit kleiner Blasmusik"

Heute traben wir an der Volksschule vorbei, die an drei Seiten vom Friedhof umzingelt ist. Ich erzähle Franz, wie das Schulgebäude ausgebaut worden ist, als ich in die Vierte ging. Zur Wiedereinweihung ist dann sogar der Landeshauptmann gekommen. Aus irgendeinem Grund hat man damals ausgerechnet mich dazu ausersehen, dem Ratzenböck Blumen zu überreichen. Meine Eltern zerrten mich also aus dem kleinen Waldstreifen, in dem ich während des Sommers als Indianerhäuptling ein strenges Regiment über die anderen Nachbarkinder führte. Sie wuschen mir den Dreck aus dem Gesicht, bürsteten mir die Ritter aus dem Haar und steckten mich in ein zu enges Dirndlkleid. Ich ließ alles erschrocken und schreckensstarr über mich ergehen. Als mir die Direktorin dann einen Blumenstrauß in die Hand drückte und mich in Richtung Landesjosef plus Blasmusik schob, wallte schließlich die Angst in mir hoch. Ich schickte mich an, auf meinen kurzen Beinen das Weite zu suchen. Mein Vater fing mich nach drei Metern ab, drehte mich in die richtige Richtung und sorgte so dafür, dass der Ratzenböck doch noch zu seinen Blumen kam. Den Fluchtimpuls habe ich heute gut im Griff, aber ein Dirndl habe ich seitdem nur noch unter Protest angezogen.
Franz gluckst vor Lachen, aber auch vor Bierdurst. Die Kantine des neuen, in pilzartiger Geschwindigkeit aus dem Boden geschossenen Reha-Zentrums lassen wir rechts liegen. So wie das ›Café Regina‹ des Fleischhackers, da wir dort bei unserer letzten Exkursion in den ›Ortskern‹ unter Substanzeinfluss von der Budel gekippt sind und von den diensthabenden Zivildienern erstversorgt werden mussten.
Nur einen Steinwurf – und ich kann nicht weit werfen – entfernt schimmert an einem großen Vierkanthof fahl das Schild ›Gasthof Übleis‹. Vor dem Eingang zögern wir, ich nehme mir zuerst ein Herz und stoße mit einem etwas zu forsch geratenen »Sgood!« die Tür zum Schankraum auf. Haben wir von außen gerade noch lautes Reden sowie Fäuste und Karten auf den Tisch knallen gehört, so herrscht nun große Stille in der kleinen Gaststube. 13 Augenpaare starren, eines davon hinter dicken Brillen, die ich abnehme, da der Dunst mir die Sicht verschlägt. Ich sehe ohne Brille fast genauso schlecht wie ohne Augen, also vergeht eine peinsame Weile, bis ich mich wieder orientieren und bewegen kann. Franz ist derweil reglos hinter mir stehen geblieben.
Langsam nehmen die Gäste ihre Gespräche und Schnaps-Partien wieder auf und sehen nur noch verstohlen zu uns her, während wir uns hinsetzen. Über dem Nebentisch hängt ein riesiges Luftdruckgewehr, darunter sitzen drei Kartenspieler in Ballonseide, auf der jeweils ›Asphaltstockschützen Schönering‹ steht. Im Übrigen kenne ich keinen anderen kleinen Ort, in dem eine derart riesige Asphaltstockhalle steht. Ein imposantes Mahnmal antiquierter Leibesertüchtigung.
Der Kellner kommt. Er trägt ein T-Shirt, auf das ihm ein Kind einen Igel und in krakeliger Volksschulschülerschrift ›Sei nicht immer so stachelig‹ gemalt hat. Auf seinen Armen sind ebenso ungelenke Tätowierungen zu sehen, aber keine Igel, sondern blutende Messer und Herzen. »Wos ham’S n firan Wunsch?« Unter dem Tisch trete ich sacht gegen Franzens Schienbein, um ihn an die Wette zu erinnern. Er räuspert sich. »Wöchane Proseccosorten hobt’s denn?«
Sein Gesicht glüht vor Scham wie ein bulgarischer Reaktor, auch der Kellner wird rot. Wieder wird es still. »Zwoa Hoiwe woin ma«, erlöse ich die beiden und schließlich wird am Nebentisch wieder gekartelt.
So sitzen wir und hören zu, weil wir uns sowieso nicht auf ein eigenes Gespräch konzentrieren können – denn an den anderen Tischen schwebt die aufregende Möglichkeit einer Handgreiflichkeit in der Luft. Ein Landesbeamter verteidigt gegen vier Voestler die Anzahl seiner Arbeitsstunden und provoziert auch durch geringfügige Liberalitäten in der Ausländerpolitik. Wir sind gebannt und sprechen nur beim Bestellen. So werden aus den zwei Halben drei, vier, fünf, sechs. »Wiaso duzt mi der blede Kööna ned, glaubt der, i bin wos Bessas?«, raunzt Franz Stunden später, sobald wir aus dem Wirthaus draußen sind.
Und dann torkeln wir wieder zurück ins Einfamilienhausghetto, vorbei an Gärten voller SchwimmbeckenSchaukelnTrampolineCarportsThujen. Wir übergeben uns zum Abschied auf dem Vorplatz vor dem Volvo-SUV meines Vaters. Denn bevor man über andere spottet, soll man zuerst vor seine eigene Haustür kotzen.

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