Montag, November 01, 2021

Über das wahre Leben schreibe ich hier nicht

Phantomereignisse im Oktober 2021

1.10.

Um 10:06 auf dem Bahnsteig, um den Zug um 10:16 rechtzeitig zu erwischen. Allmählich ähnle ich meiner Mutter, die stundenlang vor jedem Aufbruch nervös wurde, ganz egal, ob es ein Zahnarzttermin oder etwas Besseres war. Die Aufbruchsunruhe, und die Hände, und das recht gern Zuhausebleiben.

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Wegen der verreckten message control reden die Politiker schon so uneigentlich, dass man bald Auguren braucht, die aus ihren Handbewegungen und Slimfit-Nuancen Orakelsprüche herauslesen wie aus dem Vogelflug. Wenn das so weitergeht, muss man den Ministern den Bauch aufschneiden, um aus ihren Eingeweiden zu erkennen, was sie mit uns und der Zukunft vorhaben.

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Wien ist überall Stadt, egal wo man aus der Straßenbahn aussteigt. Ich will Urlaub in der Quellenstraße machen.

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Vielleicht gründe ich die GAV Schönering, aber bei der Vorstandssitzung hat man mir ohnehin schon gesagt, dass ich in OÖ eine „unbegrenzte Obmannschaft“ innehielte, das stillt meine despotischen Bedürfnisse im Keim, denn es klingt wie „gemäßigte Diktatur“.

2.10.

Von der Arzlochscharte hinüber zur Kirtagsmauer, eine Bergtour wie in einem Franzobel-Roman. Gegen meinen Willen treibe ich die armen Gämsen vor mir her wie eine durchgeknallte Hirtin, vergebens schlage ich eine andere Richtung ein, sobald ich sie siehe, nach der nächsten Geländekante stehen sie wieder da und schauen mich böse an. Beim Abstieg überrasche ich eine beim Pinkeln, ihr Blick gleicht dem des Steinadlers, den ich unabsichtlich vom Gipfel des Bruderkogels vergrämt habe.

3.10.

SUVs verstopfen die Grazer Innenstadt, in den Gunstlagen der Repräsentationsbauten Raiffeisenfilialen, Red-Bull-Stores, Salewa-Outlets. Die Steiermark liebt die Privatwirtschaft wirklich. Da könnte die kommunistische Kaar dreinfahren wie Jesus unter die Tempelhändler.

Warum Graz der Seehunde gedenkt, erschließt sich auf den ersten Blick nicht, aber es ist eine liebe Geste gegenüber der Fauna.

4.10.

Alex hat einen Bekannten, der sich im Zoo zu fürwitzig über das Vogelgehege gebeugt hat und von einem Pelikan ins Gesicht gebissen wurde, es passte ganz in den gezähnten Schnabel. Der bemerkenswerte Unfall kam wegen der feingezackten, langen Bissspur auf.

8.10.

Es ist ein Irrglaube, dass ich hier über die wahren Dinge des Lebens schreibe.

14.10.

Wie zur Belohnung nach dem Unterleibs-Service manifestiert sich der von Coala und mir stark, aber ehrsam verehrte Foto-Graf Dieter Decker auf und tut so, als sei das nichts weiter. Er berichtet über 19 schöne Sachen, die ich mir fast alle nicht merke, weil ich ein wenig dumm bin und diesen Eintrag auf seinen Wunsch auch erst nachträglich einfüge (aus übertriebenem Datenschutz!). An eine Geschichte erinnere ich mich, nämlich an den Sturz eines Tirolers aus allen Wolken, als ihm die Tochter einen "Preußen" als Schwiegersohn andrehen wollte.


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Bei den ersten zaghaften Versuchen, den Nachlass zu ordnen, tauchen unter einem Wust an Rechnungen, Befunden, Urlaubsgrüßen, Priestermangel-Zeitungsartikeln vier Fotos von einem offensichtlich toten Menschen auf, es dauert, bis ich meinen Großvater darin erkenne.

15.10.

Der Pfarrer nach dem Begräbnis: „Ich hätte eigentlich ein Mädchen werden sollen, nach lauter Brüdern, aber leider war es mir nicht vergönnt, diese höhere Daseinsform im Anthropozän zu erreichen.“

16.10.

In Gugging lebte ein Künstler, der eine der besten Wahnvorstellungen hatte, nämlich jene, unfassbar reich zu sein.  

17.10.

Das kaltherzige Frankreich unterteilte den Tschad glatt in der Mitte, in „tchad utile“ und „tchad inutile“. Falls noch jemand Wut-Gründe gegen die Kolonialzeit braucht.

18.10.

Goldene Wandertage. An Schönheit nicht zu überbieten, man möchte zur Naturlyrikerin werden.

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Aichinger-Ausstellung im Stifterhaus. Es gibt einen Teppich, der mit einem ihrer Texte bedruckt ist. Irgendwann möchte ich etwas schreiben, das so etwas wert ist.

Idee einer Ausstellungs-Lotterie, analog zur Impf-Lotterie: Per Los wird einem Zufallsmensch aus der Bevölkerung eine wunderbare, persönliche Lebensausstellung gestaltet, mit Textteppich und Exponaten aus der Jugend. Mir die meine vorzustellen wird meine happy-place-Fantasie bei den nächsten faden Sitzungen.

Rudi Habringer liest eine Passage aus seinem Roman vor, in dem das Wort „minkeln“ abgehandelt wird, beim Schlussapplaus schaut er provokant grinsend in meine Richtung.

In der Pause erzählt mir Pauli von ihrer Zeit bei Radio Arabella, in der sie sämtliche B- und C-Promis durchinterviewen musste, an deren „Spitze“ Albano Carisi. Sie beleidigte ihn schwer, als er sich über ihre Fragen nach den großen Erfolgszeiten beschwerte, er wolle über „my new work!“ sprechen. Pauli musste ihm vermitteln, dass sich keine Sau dafür interessiere, was er ohne Romina anstelle.

19.10.

Andere Leute haben schwerere Erbschaften zu bewältigen – eine Bekannte fand im Nachlass der Mutter einen Elefantenstoßzahn. Mehr verrate ich dazu nicht, lediglich, dass sich am Ende die weltweit notleidenden Tiere über eine schöne Spendensumme aus dem illegalen Verkauf freuen durften.

20.10.

Coala und ich schildern Alex, wie unzufrieden wir damit seien, wie die jeweils andere die Zeitung in der Früh lese. Er: „Ob der großen Liebe entbrennen Scheingefechte.“

22.10.

Es war Lesebühne, darin hatte ein erfundener Mensch Geschlechtsverkehr mit Celine Dion, in einem Piratenschiff auf dem Hallstätter See, aber das schreibe ich hier jetzt nicht noch einmal, es steht ja eh schon an anderer Stelle.

25.10.

Meindl, was würdest du ohne mich machen?!“

Irgendwas anderes.“


26.10.

Die neugierigste aller neugierigen Nachbarinnen dieser Welt rät mir, die Sträucher zur Straße hin radikal umzuschneiden, dann käme viel mehr Licht in den Garten (und darauf säßen ihre Blicke wie optische Milben). Dann erzählt sie mir, wie leicht ihr die Lockdowns fallen, nur manchmal gehe es ihr ab, durch eine nächtlich beleuchtete Stadt zu gehen, so wie damals als Kind nach der Klavierstunde. Das habe sie immer genossen und seither nie wieder gemacht.

Es sind im Grunde diese mysteriösen Existenzen, die auf völlig andere Weise 20 Meter neben deiner eigenen geschehen. Das ist radikale Diversität. Über solche Lebensentscheidungen müsste sich die Literatur doch den Kopf zerbrechen, nicht immer nur Krieg und Hallodrisachen. Diese Frau ist 20 Minuten Busfahrt von ihrem Ziel entfernt. Dass einen Menschen nicht mehr als 100 Meter bis zur Wilia-Bushaltestelle, 1,20 € Fahrtgeld, ein mauliger Mann (der sich das Abendessen erstmals in diesem Jahrtausend selbst auf den Tisch stellen müsste) von der Erfüllung seiner Träume abhält – so wenig und zugleich ALLES – , das fasziniert und gruselt mich, und ich meine das ohne jeden Zynismus.

27.10.

Bei der Lesung für die Grünen Frauen behaupte ich, dass ich mit Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer auf den Schock hinauf, dass ich den Literaturnobelpreis bekomme, Hanfkekse genascht hätte. Der Applaus des türkisen Gemeindekulturreferenten gefällt mir sehr gut.

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Es ist ein steter Quell der sprachlichen Freude, mit einer Staatsanwältin befreundet zu sein. Deswegen weiß ich jetzt, dass Juristinnen Querulanten als „Menschen mit verdichtetem Rechtsbewusstsein“ bezeichnen. 

29.10. 

Vor der Lesung in Eferding kommt es sehr schnell zum branchenüblichen, extrem freundlichen Negativ-Battle, wer jemals die wenigsten Menschen bei einer Lesung gehabt habe. Es gewinnt Gertraud Klemm (quasi "keiner, und der ist mittendrin gegangen"). Es ist sehr, sehr schön im Gastzimmer, so überhaupt kein Abend für literarisches Understatement. Marianne Jungmaier fragt mich nach Kulturpolitik, und ich sage, man möge mich erschlagen, wenn ich behaupte, es ginge mir nicht sehr gut dank meiner ganzen Privilegien. Talking of which: Nach der Lesung in Eferding bewirtet uns Karin Peschka mit Crémant, den sie von der befreundeten Feinkosthändlerin gegenüber kaufe. Außerdem ist der neue Bürgermeister freundlich, schwul und geht zu Lesungen. Vielleicht ist Eferding das neue Hipsterhausen von Oberösterreich geworden, ohne dass wir es bemerkt hätten. 

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 Über das wahre Leben schreibe ich hier nicht, außer ich tue mir einen Hund ins Haus: